Donnerstag, 24. November 2016

Hellgrüne Spuren

Pendel der Sehnsucht


Glücklich bis zur Schwermut, liest man bei Tschechow und hält inne für einen Augenblick. Gilt doch die Schwermut gemeinhin als Unglück, und nun soll sie die Steigerung des Glücks sein, ein übergroßes Glück; gäbe es dann vielleicht gar kein tiefes Glück ohne Schwermut, und wäre Schwermut nur ein besonderer Blick auf das Glück? Im russischen Text steht für Schwermut das rätselhafte Wort тоска. Nabokow, mit seinem peniblen Ohr für die Bedeutungsklänge seiner Muttersprache, erläutert: In seinen tiefsten und schmerzhaftesten Phasen ist es ein Gefühl von großer geistiger Qual, oft ohne spezifischen Grund. In weniger starkem Maße ist es ein dumpfer Schmerz in der Seele, eine Sehnsucht nach etwas, ohne zu wissen wonach, ein krankmachendes Verlangen, eine unbestimmte Rastlosigkeit, ein mentales Leid. In konkreten Fällen kann es der Wunsch nach etwas Bestimmtem sein, aber auch Nostalgie oder Liebeskummer. In geringerem Ausmaß kann es auch einfach nur Langeweile sein.

Die von Nabokow nur der Ordnung halber angeführte schlichte Langeweile können wir vernachlässigen – oder ist sie vielleicht doch mit im Spiel, wenn Sebalds Erzähler von einer besonders unguten Zeit spricht? -, die Sehnsucht aber muß in jedem Fall hinzugenommen werden, sie ist das bewegliche Teil, das Pendel, das hin und her schwingt, der Weg zum Glück und wieder zurück, denn naturgemäß muß, wenn glücklich bis zur Schwermut gilt, auch die Umkehrung gelten: schwermütig bis zur Glückseligkeit. Für diese Umkehrung finden wir bei Sebald ein besonders einprägsames Beispiel: Wie ein Dröhnen war die lautlose Klage der Engel Giottos zu hören in der Stille des Raums. Die Engel selbst aber, die den Tod Christi und mehr noch seit nunmehr achthundert Jahren den Zustand der Welt beweinen, hatten die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. Und sind nicht die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können? - Das Wunderbarste, das Glückhafteste - unvermittelt aus radikaler Schwermut und Trauer wird auf dem Wege einer durch die Kunst erfüllten Sehnsucht nach Schönheit das Glück gewonnen. Die, wenn überhaupt, nur schwer erkennbaren hellgrünen Spuren der Veroneser Erde nehmen unverkennbar Bezug auf Prousts berühmten petit pan de mur jaune, von dem einige Interpreten behaupten, daß es ihn gar nicht gebe auf Vermeers Bild; das würde seine Bedeutung als Symbol für eine Art Umschaltrelais von Leid zu Glück und wieder zurück von Glück zu Leid - nur für Vermeers Bild hat Bergotte sein Haus noch einmal verlassen und er stirbt, den zumindest für ihn sichtbaren magischen gelben Fleck noch vor Augen -, die Unauffindbarkeit des Flecks würde, um fortzufahren, seine Bedeutung als Umschaltrelais im Gefüge der Kunst nicht im geringsten mindern. So, im Verein mit Giotto, Proust und Vermeer, ruft Sebald einen zentralen Punkt seiner Poetik auf, das aus der Klage vermittels der Schönheit in der Kunst gewonnene Glück. Das ist die Stelle, an der der Dichter sich trifft mit seinen Lesern. Sergio Chejfec im fernen Argentinien – Distanz ist ein unverzichtbares Requisit der Wahrheit - notiert denn auch umstandslos: Sebald ramène le lecteur à une position souvent perdue depuis longtemps: l'admiration et le pur plaisir esthétique*. LE PUR PLAISIR! Sebald nimmt Maß an der schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn, die er bei Gottfried Keller erlebt. Ihre staunenswertesten Höhepunkte erreiche Kellers allem Lebendigen bedingungslos zugetane Prosa aber gerade dort, wo sie an den Rändern der Ewigkeit entlangführt. Mit Erschauern spürt man, wie abgrundtief es zu beiden Seiten hinuntergeht, wie das Tageslicht manchmal schon schwindet vor den von weit draußen hereinziehenden Schatten und oft beinahe erlischt unter dem Anhauch des Todes. – Die schöne Bahn der Sätze, allem Lebendigen bedingungslos zugetan unter dem Anhauch des Todes - beschwört Sebald hier nicht auch sein eigenes Werk, in dem die glückhafte Prosa all das Morden, all die Greuel und all die melancholischen, untröstlichen Gestalten hervortreibt, und offenbar nur unter dieser Bedingung erlaubt ist?

Bei Tschechow wird das an Schwermut grenzende Glück lebens- und alltagsnäher eingeführt. Es ist ein Liebender, der so spricht, ein seit einem Jahr dermaßen unerträglich glücklich Verheirateter, daß ihm als Ausweg nur noch die Schwermut, die тоска bleibt. Dergleichen gibt es bei Sebald nicht, wird man sagen, und doch, da ist eine hellgrüne Spur: Die Wirtin Luciana Michelotti, eine mir als resolut und lebensfroh in Erinnerung gebliebene Frau, machte an diesem Tag einen schwermütigen, wo nicht gar untröstlichen Eindruck - schwermütig, wir lesen: bereit für das Glückserleben. Am nächsten Tag saß ich an einem Tisch nahe der offenen Terrassentür mit meinen Papieren und Aufzeichnungen. Das Schreiben ging mir mit einer mich selbst erstaunenden Leichtigkeit von der Hand. Luciana, die hinter der Theke wirtschaftete, blickte immer wieder aus den Augenwinkeln zu mir herüber. In regelmäßigen Abständen brachte sie mir, wie erbeten, einen Express und ein Glas Wasser. Meistens blieb sie dann bei mir stehen und knüpfte eine kleine Unterhaltung an. Einmal ist es mir gewesen, als spürte ich ihre Hand auf meiner Schulter. Später dann, als der Paß verlorengegangen ist, fährt sie ihn für die Ausstellung eines Ersatzdokumentes zum Polizeiposten, und als der Erzähler mit dem Dokument wieder mit Luciana im Auto saß, war es ihm als seien die beiden von dem Brigadiere getraut worden und könnten nun miteinander hinfahren, wo sie wollten. - Wo hat man den Anhauch des Glücks schon einmal schöner verspürt als in dieser, hier in extremer Verkürzung und Verunstaltung vorgestellten Geschichte?

Welcher Sebaldforscher hat sich in all den Jahren schon groß um Luciana Michelotti gekümmert? Leit- und Leidthema der Sekundärliteratur ist der Holocaust. Fridolin Schleys furiose Inauguraldissertation, ein Paradebeispiel fürwahr, ordnet Sebalds Werk von vorn bis hinten der Holocaustliteratur zu, folgt man ihm in diesem Punkt nicht, ist die Luft weitgehend raus. Verdienstvoll ist ein jetzt bei de Gruyter von Uwe Schütte herausgegebener Sammelband**, der Austerlitz ausdrücklich aus dem Kreis der zugelassenen Themen verbannt. Sebald der Untröstliche mit all seinen untröstlichen Gestalten aber steht weiter im Rampenlicht der das Werk des Dichters begleitenden Literatur, als hätte er den Gegenpart nicht in sich. Wie das Glück (le pur plaisir) wird auch das Komödiantische in seiner Prosa nur vereinzelt wahrgenommen. Anläßlich der Veröffentlichung von Über das Land und das Wasser vermochte ein namentlich nicht mehr präsenter Autor in seiner Zeitungsrezension in Sebalds Lyrik erstmals kaum wahrnehmbare hellgrüne Spuren von Humor entdecken, Spurenelemente, so der Rezensent, die in der Prosa auch mit dem Elektronenmikroskop nicht auszumachen seien. Was hat es dann aber auf sich mit der siegreichen Eroberung eines Cappuccinos im Bahnhofsbuffet von Venedig, der Begegnung mit den Kafkazwillingen im Bus nach Riva, dem einsamen Kampf mit der panierten Fischschnitte im Victoriahotel zu Lowestoft, was mit der Geschichte vom verlorenen Paß in Limone und anderen Geschichten mehr: Geschichten komisch bis hin zum Slapstick. Offenbar hatte der Zeitungsmann Sebalds Prosawerk nur zur knappen Hälfte gelesen. Eckhard Henscheid hat in seinem Dostojewskibuch Nietzsche wegen ähnlicher Vorkommnisse einen lesefaulen Sprücheklopfer genannt. Fürchtet auch Ihr seinen Zorn!

*Europe, revue littéraire mensuelle, nr. 1009, 2013
**Über W.G. Sebald, 2016


Donnerstag, 17. November 2016

Steinbrücke, Holzbrücke

Ort in der Fremde


Selysses hat fast seinen Geburtsort erreicht, auf der steinernen Brücke kurz vor den ersten Häusern blieb er lange stehen, horchte auf das gleichmäßige Rauschen der Ach und schaute in die nun alles umgebende Finsternis hinein. Uwe Schütte weist auf die Ähnlichkeit mit dem ersten Absatz von Kafkas Schloß hin, ein anderer Wanderer, der kurz vor Erreichen seines Ziels auf einer Brücke längere Zeit nachdenklich innehält: Es war spät abend als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehn, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke die von der Landstraße zum Dorf führt und blickte in die scheinbare Leere empor.

In seinem fiktionalen Text ist Kafka frei in der Gestaltung seiner Brücke, er entscheidet sich für eine Holzbrücke, Selysses muß eine reale, aus Stein gebaute Brücke betreten. Er hört, wie unter ihm der Fluß dahin rauscht, zu sehen ist er in der Dunkelheit kaum noch, von der umgebenden Landschaft sind allenfalls schemenhaft noch abgedunkelte Farbschattierungen wahrnehmbar. Ob unter der Brücke des Landvermessers ein Gewässer fließt, erfahren wir nicht, eher wird wohl nur eine Geländeunebenheit überwunden. Ganz vorn ist es weiß vom Schnee, weiter hinten milchig weiß vom Schnee und Nebel, einzelne schwarze Flecken, ganz hinten nur noch das Grau und Schwarz der Nacht.

Der Landvermesser, der ohne Vergangenheit aus dem Unbekannten kommt, geht in die Kälte einer unbekannten Zukunft, die sich, soweit ihm darein folgen können, nicht gut anläßt. Für Selysses ist sein Geburtsort gleich hinter der Brücke weiter in der Fremde als jeder andere denkbare Ort. Diesen Ort aber betritt er dann auch kaum, er betritt vor allem den Ort, der zu seiner Kindheit hinter der Brücke gelegen hatte.

Montag, 14. November 2016

Ya-ik-tee

Tischgespräche

Dem Zeitungsbericht zufolge hatte Le Strange Florence Barnes, eine einfache junge Frau aus dem Landstädtchen Beccles, eingestellt unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Schweigens einnehme. Redeverbot beim Essen ist nicht gleichbedeutend mit einem umfassenden Schweigegebot, selbst das krasse Gegenteil soll möglich sein. Wir denken an Buñuels Film: Die Nahrungsaufnahme gilt als beschämend, das Essen wird einsam in einer kleinen Kammer hastig und selbstverständlich schweigend heruntergeschlungen, anschließend trifft man sich plaudernd beim geselligen Stuhlgang – ein Lehrstück, das uns einweisen will in die totale Konventionalität und Zufälligkeit aller Konventionen, ein Lehrstück freilich, von dem sich kaum jemand belehren läßt, die Darmentleerungsparty ist offensichtlich ein bloßer Humbug.

In dem Westernfilm The Stalking Moon bietet Gregory Peck Eva-Marie Saint, die er aus zehnjähriger Gefangenschaft der Apachen befreit hat und die nun nicht weiß wohin, aus Mitleid, mehr aber noch wegen einer rapide anwachsender Zuneigung, die Stelle als Hauswirtschafterin und Köchin auf seiner Ranch in Neu Mexiko an, die er nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst fortan bewirtschaften will. Schon ist die erste Mahlzeit zubereitet, Peck nimmt am Tisch Platz, Saint steht mit ihrem Apachensohn wortlos in einer Ecke. Auf Schweigsamkeit bei den Mahlzeiten ist der Rancher nun aber gerade nicht aus. Er bittet die beiden, Platz zu nehmen am Tisch und beginnt dann mit einfachen Gesprächsübungen: Kann ich bitte das Salz haben, möchten Sie noch etwas Fleisch &c. Der Junge, der außerhalb der Apachensprache kein Wort versteht, schweigt naturgemäß weiter und Saint gelingt schließlich unter Mühen ein einziger Satz nur: Es ist nicht einfach für mich. Es ist nicht einfach, zurückzufinden aus den sozialen Verhaltensweisen und Konventionen von Steinzeitmenschen in die Welt des weißen Mannes. Bis zum Ende des Filmes wird Saint erfreuliche Fortschritte machen, die Sache ist ja nicht so verfahren wie bei Buñuel. Der Vater des Apachenjungen, das sei noch erwähnt, heißt Ya-ik-tee, übersetzt: Er-ist-nicht-da. So könnten auch Le Strange und die anderen heißen, ob sie nun in ein fernes Land oder in ein anderes Segment ihres Inneren, eine andere Seele* ausgewandert sind. Im übertragenen Sinn kann Ya-ik-tee auch Er-ist-tot bedeuten.

* Inna dusza, Eine andere Seele, ein Roman von Łukasz Orbitowski

Samstag, 5. November 2016

Prawo i sprawiedliwość

Gerichtshöfe

Frederick Farrar hatte in Cambridge und London Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er gelegentlich mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Hochachtung oder gar Begeisterung für die Juristerei kommt in diesen Worten nicht zum Ausdruck, andererseits ist aber auch nicht ganz klar, woraus sich das Entsetzen herleitet, vielleicht ist es ganz allgemein das Entsetzen über ein halbes Jahrhundert entfremdeten Lebens, wie man gern sagt. Den Laien ist die Jurisprudenz in der Mehrzahl verwunderlich, nicht nur, daß sie unseren immerwährenden Durst nach Gerechtigkeit nicht stillt, auch das simple Recht scheint sich nicht selten in der anwaltlichen Artistik zu verflüchtigen. William Tapply erzählt von einem begnadeten Strafverteidiger, der in nahezu jedem Fall für seinen Mandanten den Freispruch erzielt, zum eigenen Leidwesen, denn immer weniger erträgt er es, die Schurken dank seines Geschicks unbeschadet auf freiem Fuß zu sehen, ihr Schandwerk ungeniert fortführend. Schließlich bringt er drei besonders üble, ursprünglich von ihm befreite Zeitgenossen der Reihe nach um, einen Kinderschänder, einen Hitman der Mafia und einen betrunkenen Todesfahrer. I tried to convince myself that he made justice happen, sagt später eine ihm nahestehende Person. Daß er die bestehende Rechtsordnung zu ihrem verborgenen Zentrum geführt habe, kann nicht ernstlich gemeint sein. Ob er der Gerechtigkeit einen Schritt näher gekommen war, darüber kann man einen Augenblick zumindest nachdenken.