Donnerstag, 18. September 2008

Vorfahren

Kalender, Atlanten, Trödel und Aschenregen

Der Blick von der Milchstraße herab auf die öde
und schwarz im Weltall sich drehende, ausgebrannte
Ruine der Erde könnte fremder nicht sein, und doch
liegt die Kindheit, die wir auf ihr verbrachten,
kaum weiter zurück als der gestrige Tag.

Sebald nimmt Logis in einem Landhaus und lädt sich Freunde und Vorfahren ein. Im Gespräch mit ihnen offenbart er mehr über den gedanklichen und biographischen Hintergrund seiner Erzählkunst als an anderen Orten. Hebel wird als Kalendermacher eingeführt und sogleich wird erläutert, der eigene Großvater, dessen Sprachgebrauch in vielem an den des Hausfreunds erinnerte, habe die Gewohnheit gehabt, auf jeden Jahreswechsel einen Kemptner Calender zu kaufen, in welchem er dann die Namensfeste seiner Verwandten und Freunde, den ersten Frost, den ersten Schneefall, den Einbruch des Föhns, Gewitter, Hagelschlag und ähnliches mehr mit dem Tintenblei vermerkte (LL 13f). Der Kalender des Großvaters bringt eine verlässliche Ordnung in die Welt, ähnlich wie auf dem höheren Niveau derjenige Hebels: Dem blind und taub sich fortwälzenden Prozeß der Geschichte hält er Begebenheiten entgegen, in denen ausgestandenes Unglück entgolten wird, auf jeden Feldzug folgt ein Friedensschluß, jedes Rätsel, das uns aufgegeben wird, hat eine Lösung, und in dem Buch der Natur, das Hebel vor uns aufschlägt können wir studieren, daß selbst die kuriosesten Kreaturen, wie zum Beispiel die Prozeßspinner und die fliegenden Fische ihren Platz haben in der aufs sorgfältigste austarierten Ordnung (LL 17).

Was einen weiteren Gast im Landhaus, Robert Walser, anbelangt, so erinnerte er mich unwillkürlich immer an meinen Großvater Josef Egelhofer, mit dem ich als Kind stundenlang oft durch eine dem Appenzell in vielem verwandte Gegend gewandelt bin (LL 135). Mit Jan Peter Tripp, auch er zu Gast im Landhaus, hat Sebald posthum den Band Unerzählt herausgebracht. Auf dem Einband findet sich ein Portrait, das Sebald mit Walser und also, wegen der Ähnlichkeit der beiden untereinander, zwangsläufig auch mit dem Großvater überblendet. Ein ähnliches Bild muß der Lukas Seelos vor Augen gehabt haben, denn natürlich sei es überhaupt nicht das Kind gewesen, an das ich ihn erinnert habe, sondern der Großvater, der denselben Gang gehabt habe wie ich und beim Herauskommen aus der Haustür gerade so wie ich zunächst stehengeblieben sei, um nach dem Wetter zu schauen (SG 229f).

Erzählerisch aufgegriffen wird der gedanklich-biographische Hintergrund am unmittelbarsten in den Schwindel.Gefühlen. Im Zug unterwegs nach Mailand holt Selysses den „Beredten Italiener heraus, ein im Jahre 1878 in Bern erschienenes Hülfsbuch für Alle, welche in der italienischen Sprache schnelle und sichere Fortschritte machen wollen. In diesem Büchlein ist alles aufs beste geordnet, so als setze die Welt sich tatsächlich bloß aus Wörtern zusammen, als wäre dadurch auch das Entsetzliche in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit (SG 119). Auf schlichteste Weise also die gleiche Weltberuhigung, die vom Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreund ausgeht.

Im Café Alpenrose, wo der Großvater die Tanten Babett und Bina trifft, um mit ihnen Karten zu spielen, vertreibt sich der kleine Selysses währenddessen die Zeit mit einem alten Atlas und zumal mit dem Blatt, auf dem die größten Ströme und die höchsten Erhebungen der Erde ihrer Länge beziehungsweise ihrer Höhe nach angeordnet waren (SG 242). Auch hier also die große weite Welt auf engem Raum zusammengefaßt und ihrer Gefahren beraubt. Der gleiche Blickwinkel von einem festen, gesicherten Punkt, heiße er ruhig Heimat, in die Weite der Welt ergibt sich auch aus der in drei großen Folianten untergebrachten Ansichtskartensammlung der Engelwirtin, die sich der kleine Selysses oft stundenlang anschaute. Das gab im Verlauf der Zeit eine lange topographische Litanei aus Ortsnamen wie Chur, Bregenz, Innsbruck, Altausee, Hallstatt, Salzburg, Wien, Pilsen, Marienbad, Bad Kissingen, Würzburg, Bad Homburg und Frankfurt am Main. Auch italienische Karten gab es zahlreiche aus Meran, Bozen, Riva, Verona, Mailand, Verona, Mailand, Ferrara, Rom und Neapel. Eine davon (und die wollen wir uns besonders merken) zeigte den rauchenden Kegel des Vesuvs (SG 213f).

Ein weiterer bekannter Logisgast ist Gottfried Keller, bei ihm wird neben anderem die Sammlerleidenschaft hervorgehoben (LL 112), die ihn einerseits als barocken Poeten der Vergänglichkeit kennzeichnet, andererseits ist dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie ein Lauffeuer um sich greifenden Hochkapitalismus (LL 104) mit den verdämmernden Dingen, die aus dem Verkehr gezogen sind und ihren Warencharakter längst eingebüßt haben, ein Bild entgegengesetzt aus jener früheren Zeit, in der die Verhältnisse der Menschen zueinander noch nicht über Geld geregelt waren: Ein Bündel vergilbter Papiere mit Rezepten und Geheimnissen, ein Fläschchen mit Hoffmannstropfen, ein anderes mit Kölnischem Wasser und eine Buchse mit Moschus; eine andere, worin ein Endchen Maderdreck lag, und ein Körbchen aus wohlriechenden Palmen geflochten, sowie eines aus Perlen und Gewürznägeln zusammengesetzt. (LL 113). – Die Buchse mit Marderdreck scheint in ihrer Abseitigkeit auch für Sammlerkreise unmittelbar zu den sieben verschieden geformten, nicht mehr als zwei bis drei Zoll hohen Bakelitdosen zu leiten, von denen jede, wie es sich zeigte, den sterblichen Rest einer der hier in diesem Haus an das Ende ihres Lebens gekommenen Motten enthielt (AUS 241).


Zeugnisse der Sammlerleidenschaft sind zahlreich in Sebalds Erzählungen, am meisten Wirkung gezeigt hat der ANTIKOS BAZAR in Theresienstadt: Kristallene Schalen, Keramikvasen und irdene Krüge, ein blechernes Reklameschild, das die Aufschrift Theresienstädter Wasser trug, ein Seemuschelkästchen, eine Miniaturdrehorgel, die kugelförmiger Briefbeschwerer, in deren Glassphären wunderbare Meeresblüten schwebten, ein Schiffsmodell, eine Art Korvette unter geblähten Segeln, ein Trachtenkittel aus einem leichten helleinenen Sommerstoff, die Hirschhornknöpfe, eine überdimensionale russische Offiziersmütze und die dazugehörige olivgrüne Uniformjacke mit den goldenen Schulterstücken (AUS 283).

Daß der Erzähler sich in unmittelbarer Nähe des Ghettomuseums Theresienstadt für Hirschhornknöpfe erwärmen kann, ist ihm übel angekreidet worden. Ganz offenbar teilt Sebald nicht die offiziell verordnete Haltung gegenüber dem Holocaust, wonach die Menschheit, im Prinzip gut unterwegs in Richtung Demokratie, Menschenrechte und Völkerverständigung, lediglich, von kleineren Stolpereien und Knieabschürfungen abgesehen, ein Mal zwischen 1933 und 1945 auf ihrem Weg verbrecherisch umgestoßen und übel zu Fall gebracht wurde. Die tieferreichende und, was die Grundstimmung anbelangt, konträre Sicht ist, daß 1933 nur ein weiteres Mal eine dunkle, der Moderne fest eingegrabene rabenschwarze Komponente ausgeschwitzt wurde.

Das Verhängnis ist schon langandauernd und nicht behebbar. Das Gespräch mit Hebel im Landhaus endet damit, daß der Ätti, unterwegs mit dem kleinen Knaben an der Hand, den Untergang der Stadt Bern und der Welt imaginiert. Ätti kann im Schweizerdeutsch sowohl Vater als auch Großvater bedeuten oder, abstrakter, auch alter, gutmütiger, etwas altmodischer Mann (von Greyerz/Bietenhard, Berndeutsches Wörterbuch). Ganz offenbar ist es auch der kleine Selysses, der unmittelbar aus dem Mund seines Großvaters vernimmt: Der Belche stoht vercholt, der Blauen au, as wie zwee alti Türn, und zwische drinn isch alles uße brennt, bis tief in Boden abe. D’Wies het ke Wasser meh, s’isch alles öd und schwarz (LL 40). Sebalds erwachsene Helden stehen in keinem geschützten Raum und erfahren die Weite der Welt nicht handgerecht aus Kalendern, Atlanten und Postkartensammlungen, sie sind typisch die Ausgewanderten, in den Orbit geschleudert, und schauen von dort herab auf die öde und schwarz im Weltall sich drehende, ausgebrannte Ruine der Erde (LL 40f). Den Ausgewanderten bleibt gleichwohl die Sehnsucht nach der Enge der Herkunft. Dr. Selwyn kommt das Heimweh im Verlauf der letzten Jahre mehr und mehr an. Ich sehe, wie der Kinderlehrer im Cheder, den ich zwei Jahre schon besucht hatte, die Hand auf den Scheitel legt. Ich sehe das ausgeräumte Zimmer. Ich sehe mich zuoberst auf dem Wägelchen sitzen, sehe die Kruppe des Pferdes, das weite, braune Land, die Gänse im Morast der Bauernhöfe mit ihren gereckten Hälsen (AW 31). Die Gänse sind aus ihrem Verschlag verschwunden. Bald darauf werden sie teilweise mit kochendem Fett eingegossen. Ein paar Frauen kommen aus dem Dorf zum Federschleißen. Sie sitzen in der kleinen Kammer, jede mit einem Haufen Federn vor sich, und schleißen bald die ganze Nacht. Alles schaut aus wie eingeschneit. Aber am Morgen, wenn wir wieder aufsteigen, ist die Kammer so sauber und federlos, als wäre nichts gewesen (AW 307).

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte es für einen Augenblick so scheinen, als sei der Menschheit eine neue Kindheit geschenkt worden, die sich verlängern ließe zum richtigen Leben. Der Augenblick ist schnell verflogen. Zur Fundierung dieser Sicht greift Sebald, getreu seiner Neigung zum Demodierten, auf leicht ergraute Theorielagen ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert zurück (LL 104), die alle Schuld beim „Kapitalismus“ sahen, obwohl er zum Umkehrschluß wohl kaum bereit war, die Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsform, wie immer das aussehen soll, könne die Welt ins Lot bringen. Ein interessantes Apercu in diesem Zusammenhang ist, daß Luhmann, so als habe auch er beim Ätti gelernt, von den erloschenen Vulkanen des Marxismus spricht, um dann selbst den gemeinten beängstigenden Umstand, daß die ins Rasen geratene moderne Gesellschaft auf Bremsen irgendwelcher Art nicht mehr anspricht, mit feineren Theoriemitteln herzuleiten.


Sebalds Werk läßt sich insgesamt als ein Bremsversuch lesen, der um seine Vergeblichkeit weiß, dem Leser aber Zeit zum Atemholen schenkt. In der Tat werden die verdämmernden Dinge im ANTIKOS BAZAR den Zeugnissen rasenden Unheils im Ghettomuseum Theresienstadt entgegengehalten, und auf diesem Gegensatz wird der Platztausch der Lebenden und der Toten vorbereitet. Die Toten: Es schien mir auf einmal mit der größten Deutlichkeit so, als wären sie nicht fortgebracht worden, sondern lebten, nach wie vor dichtgedrängt in den Häusern, in den Souterrains und auf den Dachböden, als gingen sie pausenlos die Stiegen auf und ab, schauten bei den Fenstern heraus, bewegten sich in großer Zahl durch die Straßen und Gassen und erfüllten sogar in stummer Versammlung den gesamten, grau von dem feinen Regen schraffierten Raum der Luft (AUS 289). Und die Lebenden: Einmal, als ich mich umwandte, sah ich, daß die Fahrgäste in den Schlaf gesunken waren, ausnahmslos. Mit verrenkten Leibern lehnten und hingen sie in ihren Sitzen. Dem einen war der Kopf nach vorn gesunken, dem anderen seitwärts oder in den Nacken gekippt. Mehrere röchelten leise (AUS 290).

Die Toten sind lebendig und die Lebenden sind tot. Der Aufenthalt in Theresienstadt endet mit einer Untergangsvision, die diejenige des Ätti geradezu wiederholt: Südwärts, in einem weiten Halbrund, erhoben sich die Kegel der erloschenen böhmischen Vulkane (jetzt wissen wir auch warum wir uns die Bildkarte vom Vesuv besonders gemerkt haben), von denen ich mir in diesem bösen Traum wünschte, daß sie ausbrechen und alles ringsum überziehen möchten mit schwarzem Staub (AUS 294). Asche senkt sich gleichermaßen über die Lebenden und die Toten, Gerechtigkeit ist hergestellt, Frieden eingekehrt. Aber es ist ja nicht das letzte Wort der Erzählung.

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