Samstag, 9. Oktober 2010

Florence Barnes

Ein glückliches Paar

Sebald hat den Major George Wyndham Le Strange erfunden und den beigefügten Beweise seiner vorgeblich realen Existenz ebenfalls und zusätzlich auch gleich noch die Haushälterin Florence Barnes, eine einfache junge Frau aus dem Landstädtchen Beccles, von Le Strange eingestellt unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Schweigens einnehme. At his death, the wealthy eccentric left her his vast estate. Asked about Le Strange she refused to give any details of the Major’s eccentric way of life.

Wenn wir WG Sebald, oder eigentlich Selysses, mit GW Strange identifizieren, so unter Mißachtung einer ganz zentralen Differenz. Während Selysses ausschließlich auf Reisen und nie zuhaus erlebt werden kann, verläßt Le Strange sein Haus und seinen Besitz überhaupt nicht. Allerdings läßt sich auch nicht behaupten, Le Strange wäre zuhaus erlebbar, allenfalls lassen sich vereinzelte Blicke über den Zaun seines Besitztums werfen. Unser Erleben des Wyndham Le Strange ist damit noch zerrissener und augenblickshafter als das des Selysses, der einmal hier und einmal da auftaucht, einmal in Italien und dann wieder in Belgien oder auch auf Korsika, so zerrissen im Fall des Majors, daß die riesigen Lücken des Erlebens sich tilgen und nur ein einziges kurzes und geradezu mystisches Erleben seiner Existenz und seiner Gestalt bleibt, im kanarienfarbenen Gehrock und umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln.

Gleich zu Beginn seines ersten veröffentlichten größeren Dichtwerks kommt Sebald auf die furchtbare Separation der Geschlechter zu sprechen, die auch das Unglück der Heiligen sei. Die auffällig androgyne Gestalt des Heiligen Georg - sowohl bei Grünewald im Lindenhardter Altar als auch bei Pisanello, con cappella di paglia - scheint dem zu entkommen, die via Georg imiteinander dentifizierten Selysses und Le Strange können nicht uneingeschränkt folgen. Selysses, der immer allein reist, ist darauf angewiesen, daß er auf weibliche Mitreisende trifft, und daß Empfangsdamen ihn am Zielort erwarten. Ihr Merkmal ist häufig eine intensive Aura des Weiblichen und immer eine Distanz, die die Separation nicht furchtbar werden läßt. Lediglich mit Luciana Michelotti wird in einer halluzinierten Trauung die Separation für einen Augenblick fortgeträumt.

In Florence Barnes können wir eine verstetigte und seßhaft gewordene Empfangsdame und Mitreisende des Majors Wyndham Le Strange sehen. Über die Form ihrer Separation oder vielleicht ihrer Aufhebung erfahren wir nichts, denn mehr noch als über Le Strange schweigt sich Florence über Einzelheiten ihres Zusammenlebens mit ihm aus. Ist sie ein cœur simple wie Flauberts Félicité mit dem gleichen Initial? Hatte sie Schwierigkeiten mit der Heiligkeit ähnlich wie Félicité, die, als sie, bis dahin unberührt von jeder Schulbildung und religiösen Erziehung, eine verspätete Einführung in die Geheimnisse der Christenlehre erfuhr, sich doch nie ganz zurecht fand in der Christlichen Ordnung der Dinge und insbesondere nicht in der schwierigen Sache der heiligen Trinität.

Oder dürfen wir Florence Barnes auf der Ebene der hohen Gefährtinnen Paul Bereyters und Jacques Austerlitz’, Lucy Landau und Marie de Verneuil, sehen? Wenig spricht dagegen, daß wir in ihr, die wir nicht kennen, beides sehen und damit ein anderes, drittes.

Was den ererbten Reichtum anbelangt, so lesen wir: Beyond wanting to buy a bungalow in Beccles for herself and her sister, she had no idea what to do with it. – In dem fingierten Zeitungsartikel, der uns ausführlicher als an anderen Stellen erlaubt, Sebald als Prosadichter in englischer Sprache zu würdigen, stoßen wir auf das große Thema der Heiligen, die ihren ererbten Reichtum nicht nutzen oder fortgeben. In der säkularisierten Form hat bereits Thomas Bernhard das Thema gern und häufig aufgegriffen. Offenbar hat Florence Barnes sich von Le Stranges Heiligkeit infizieren lassen, wenn auch mit einer milden Form der heiligen Krankheit, sie ist eine Soldatin in der Kohorte des Georgius Miles, ihr Leben ist unschuldig verlaufen, das mönchische Schweigen war ihr keine Last. Le Strange und Florence Barnes haben siebenunddreißig gemeinsame Lebensjahre verbracht, als sie sich kennenlernten war sie zwanzig und er vierzig. Es war eine sehr dauerhafte und, nach dem wenigen, das zu sehen ist, auch glückliche Verbindung.

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