Sonntag, 10. Oktober 2010

Kafka wird erheitert

Aufheiterung eines Untröstlichen

Nach den strengen Maßstäben, die seit einiger Zeit aufgrund diverser Vorkommnisse gelten, sind drei der vier Prosabücher Sebalds als Kafkaplagiate zu entlarven. Was die Schwindel.Gefühle anbelangt, so ist die Sachlage offensichtlich. Die Erzählung Dr. K.s Badereise nach Riva folgt eng Tagebuchaufzeichnungen Kafkas und der Jäger Gracchus ist im gesamten Buch allgegenwärtig. Das mag durchgehen, da es, wenn auch nicht explizit eingestanden, für jedermann erkenntlich ist. Auch den Jäger Hans Schlag als Erfindung Kafkas zu erkennen, mit seiner großen runden Mütze aus Krimmerpelz tief auf seinem Kopf, seinem starker, sich steif ausbreitendem Schurrbart und seinen weiten braunen Mantel*, gerade so, mit einem Wort, wie er dann auch auf dem Dachboden der Tante Mathild sitzt, bedarf aber schon eines erheblichen Maßes an Philologenfleiß oder Finderglück. Zu Beginn der Ringe des Saturn richtet sich Selysses – so nennen wir den sebaldnahen Erzähler, dem wir in allen vier Prosabüchern begegnen, immer ist er unterwegs, nie zuhaus – mühsam am Fenster des Krankenzimmers auf und wird zum Käfer Samsa, alles folgende erscheint vor dessen innerem Auge, daß die Originalität des Buches darunter nicht leidet, wird man einräumen müssen. Wirklich delikat wird die Angelegenheit bei Austerlitz. Der Autor gibt offen zu, daß Kafka Namenspate des Titelhelden ist, nicht aber, daß Kafka ihm auch die allesentscheidende Stelle der Abfahrt des kleinen Jacques vom Prager Bahnhof gestaltet hat, mit den flatternden Taschentüchern und dem Eindruck, der Zug fahre nicht eigentlich weg, sondern fahre nur die kurze Bahnhofstrecke uns ein Schauspiel zu geben und dann zu versinken**. Eine Petitesse scheint es da schon, wenn auch die schlafenden Londoner, an die Austerlitz bei seinen nächtlichen Streifzügen durch die große Stadt denkt, bei näherem Hinsehen Kafkas Schläfer sind, wie sie da in ihren Betten liegen, zugedeckt und im Glauben unter sicherem Dach zu sein, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt***.

Wenn gleichwohl von einer näheren Verfolgung der Angelegenheit abzusehen ist, so aus drei Gründen. Zum einen gelten die für die Wissenschaft erstellten Regeln nicht in gleicher Weise für die Kunst, sie gelten hier eigentlich gar nicht. Zum anderen sind es naturgemäß samt und sonders keine Plagiate, sondern Verneigungen vor einem möglicherweise noch Größeren, und obwohl also keine Sünde ist, so wird sie doch vergeben für das rührende Bemühen der Schwindel.Gefühle, Kafka zu erheitern.

In seinem Aufsatz Melancholy Longings: Sebald, Benjamin, and the Image of Kafka im Band Searching for Sebald geht Markus Zisselsberger aus von einem schon berühmten Jugendbildnis Kafkas, in das Benjamin sich wiederholt deutend vertieft und zu dem sich auch Sebald geäußert hat. Das Photo zeigt ein Kind, das, so möchte man meinen, in seinem Leben nicht lachen wird. Das einzige Photo Kafkas, das Sebald in die Schwindel.Gefühle aufgenommen hat, zeigt ihn aber, winzig und undeutlich genug, als einen, der zur eigenen Verwunderung eine Art Lächeln zustande bringt. Vermutlich lächelt er, weil er Sebalds Buch schon gelesen hat bis zu der Stelle, an der dieses Photo erscheint. Er hat gelächelt über Stendhal, seinen, freilich ganz anders gearteten Leidensgenossen in Liebesdingen, wenn der in Volterra in einem gelben Rock, dunkelblauen Beinkleidern, schwarz lackiertem Schuhwerk, einem extrahohen Velourshut und ein paar grünen Brillen nach eigenem Erwarten: unbemerkt und inkognito Métilde Dembowski nachsteigt; er hat gelacht über Selysses, dem es nicht gelingt, sich auf Reisen anständig zu ernähren, der einerseits zu wählerisch ist und stundenlang durch die Straßen und Gassen geht, ehe er sich entscheiden kann; andererseits zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hineingerät und dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein ihm in keiner Weise zusagendes Gericht verzehrt; der im Bahnhofsbistro von Venedig um seinen Capuccino kämpft, als gelte es die Seligkeit. Er lernt auch, vorsichtig über sich selbst zu lachen.

Wenn Kafka auf der Seite hundertundsechzig der Schwindel.Gefühle bereits lächeln kann, wenn auch nur zur eigenen Verwunderung, so hat er das Beste auf dem Gebiet der Aufheiterung in jeder Hinsicht noch vor sich. Ein wahrer sogenannter Angriff auf seine Lachmuskeln könnte es sein, wenn einige Seiten später beim Anblick eines Bild des Marktplatzes von Desenzano behauptet wird, die dort zu sehende zahlreiche Menschenschar habe sich zum Empfang des Vicesekretärs der Prager Arbeiterversicherung, Kafkas mit anderen Worten, versammelt. Das Lachen wird allenfalls dadurch in Zaum gehalten, daß Kafkas für ihn selbst wenig spaßige Angst, immer seien alle Blicke auf ihn gerichtet und von jedem Blick, der ihn streift, sei er durchschaut, - daß diese Angst also durch den Scherz aufgegriffen und therapeutisch gedämpft wird. Alle diese Blicke, die zum Bild herausschauen, sind nicht auf ihn, Kafka gerichtet: ob dieser Erkenntnis können nach einem Augenblick des Erschreckens Kafka und dann auch, zunächst den Erfolg seines Scherzes abwartend, Selysses herzlich lachen. Sie lachen miteinander. Als Selysses später im Graffito Il cacciatore im Bahnhofpissoir von Desenzano einen unzweideutigen Hinweis zu sehen glaubt, Kafka habe Jahrzehnte zuvor an gleicher Stelle gestanden, sorgt das erneut für Erheiterung. Recht wild und übermütig geht es dann schon zu, als Selysses seinem Freund auf die denkbar witzigste Weise erzählt, wie er beim Versuch, im Bus von Desenzano nach Riva, den er geplagt von seiner Scham dann vorzeitig in Limone verläßt, Photographien der beiden geklonten Kafkazwillinge zu erhalten, - bei diesem Versuch also, sich wortwörtlich zum Narren macht und in Verdacht gerät, ein zu seinem sogenannten Vergnügen in Italien herumreisender Päderast zu sein.

Die Verwandlung des Jägers Gracchus in den Jäger Hans Schlag, der die verhängnisvolle Barke nurmehr als kleine Tätowierung am Oberarm trägt, hat Kafka auf seinem Dachboden, den Sebald zum Dachboden der Tante Mathild macht, selbst noch eingeleitet; daß dem so lange um seinen Tod Betrogenen dann aber von einem zur Verwechslung des Arbeitsgerät neigeden Slapstickduo auf Motorrädern, dem Dr. Piazolo und dem Pfarrer Wurmser, aus dem Leben geholfen wird, daß bei seiner Leiche ein Dackel namens Waldmann sitzt und die Taschenuhr ein letztes Mal Üb' immer Treu und Redlichkeit spielt, das wird Kafka von der Verwunderung, lachen zu können, endgültig befreit haben. Er lacht.

Wer nur das, offenbar vor einem Publikum geführte Gespräch mit Joseph Cuomo gelesen hat (in the emergence of memory, Lynne Sharon Schwartz ed.), in dem er ein um das andere Mal Audience laughter hervorruft, weiß, daß Sebald das Geschäft der Erheiterung verstand. Aber mußte Kafka überhaupt aufgeheitert werden? Er soll sich Chaplin verwandt gefühlt, seine eigenen Sachen für komisch gehalten und bei ihrem Vortrag im Freundeskreis gern gelacht haben, als einziger vermutlich. Das hat ihm naturgemäß noch kein leichtes Leben beschert. Selysses seinerseits empfindet ganz ähnliche Ängste und Schwindelgefühle und gleich zu Anfang der Ringe des Saturn, es wurde schon erwähnt, verwandelt er sich in Kafkas schrecklichste Erscheinungsform, den armen Gregor, der mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd aus seinem Kabinett herausblickt in undeutlicher Erinnerung, wie es heißt, an das Befreiende, das früher einmal für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu schauen. Wir haben es nicht mit einem Therapeuten, Selysses, und einem Leidenden, Kafka, sondern mit zwei Therapeuten und zwei Leidenden zu tun, oder einfach mit zwei sich begleitenden Wanderern auf unterschiedlichem und doch als ähnlich empfundenen Lebensweg, zwei, die, bei allem bitteren Ernst, mit dem sie auf die Welt schauten, ernstlich miteinander lachen können. Selbst noch an Kafkas Sterbebett, als von ihm erwartet wird, er solle vor dem Verscheiden Werfels Verdiroman noch lesen, lächeln beide in stillem Einverständnis bei dem Gedanken, das ungelesen gebliebene Buch sei wohl nicht der größte Verlust, den Kafka in seinem Leben verschmerzen mußte.

* Oktavheft A (I, 17)
** TB 1.11.1911
*** Nachts

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