Dienstag, 5. Oktober 2010

Rauch

Feuerwerk für W.G. Sebald

Auf Dasssie in Flammen aufgehtDas Nachfolgende ist inspiriert von Christian Wirths Gestaltung des kleinen Sebaldstücks Verstehen. Der Text ist dort illustriert mit fünf Exemplaren ein und desselben Bildes, unter dem letzten Exemplar ist seine Herkunft angegeben: Jeremy Millar: A FIREWORK for W.G.Sebald. In memory - and celebration - of the extraordinary life and work of W. G. Sebald, a firework was lit by the side of the A 146 in Framingham Pigot, the place in which he was killed in a car crash on 14 December 2001. Weiteren Aufschluß findet man in dem Band Searching for Sebald, S 592 ff. Dort treffen wir nicht fünfmal auf dasselbe, sondern viermal auf das gleiche Bild, das alles entscheidende Rauchwölkchen ist dabei zu sehen in verschiedenen Stadien seines Vergehens. Die Ursache des Wölkchens, möglicherweise die Explosion eines Feuerwerkskörpers der schlichtesten Sorte, bleibt auch hier verborgen.

Das in jeder Hinsicht häßliche und entmutigende Bild stellt, so glaubt man zu erkennen, einen von Buschwerk überwucherten Mittelstreifen zwischen zwei Fahrbändern da, im Vordergrund links steht ein weißes Gatter mit nicht erkennbarer Aufgabe, im Vordergrund rechts steigt ein klägliches weißes Rauchwölkchen auf. Auf allen angesprochenen Ebenen scheint das Bild den höchsten Grad der Unangemessenheit zu verkörpern. Was für eine Art von Feuerwerk soll das sein. Wie kann man so das außergewöhnliche Leben und das ganz und gar außergewöhnliche Werk des Dichters Sebalds ehren. Wie, um auch das Geringste noch zu erwähnen, soll das kleine Sebaldstück Verstehen auf diese Weise erläutert sein. Noch während sich diese Fragen stellen, wächst und wächst aber, während es kalt über den Rücken läuft, auf die beklemmendste Weise die Möglichkeit, bis hin zur Gewißheit, nichts könne wahrer sein als dieses Bild.

Von keinem Motiv war Sebald wohl besessener als von dem des Brennens, des Rauchs und des Aschestaubs. In den noch nicht vollends durchgearbeiteten und verdichteten Korsikafragmenten heißt es ohne Umschweife und offen zu Tage liegend: Bezeichnender als jede andere Eigenschaft ist für unsere Art die Pyromanie. Nur vermittels des Feuers konnten wir vorgehen gegen die Wildnis. Und also hocken wir nach wie vor am Eingang unserer Höhlen und schauen auf das Feuer am Horizont. Das Feuer ist unsere einzige Hilfe, wenn uns etwas über den Kopf wächst. Überall stehen unsere Incineratoren und wir verbrennen alles vom schweren Metall bis zu den Abfällen. Haben wir nicht ganze Völker verbrannt, unsere Städte abbrennen sehen in meilenhohen Feuertürmen, und haben wir nicht alles wieder aufgebaut, besser und schöner als zuvor, und keine Schaden genommen an unserer Seele? - Gemeint ist naturgemäß, daß unsere Seelen längst zugrundegerichtet sind. Und weiter auf Korsika das Leiden der Tiere unter der Pyromanie der Menschen: Von dem Schaden, den die Brände anrichten, haben wir keinen rechten Begriff. Wir können zwar das Ausmaß der verbrannten Flächen berechnen, aber die Panik der Zeisige, deren Nester, noch bevor sie die Flammen erreichen, zu Asche verfallen, die Angst der unter den Blättern verborgenen Nachtfaltern, der Nattern, Mäuse und Eidechsen, denen selbst, wenn sie sich ausruhen, das Blut in der Kehle klopft, diese Angst können wir mit keiner Statistik erfassen; sie ist uns so unbegreiflich, wie nur unsere eigene es ist, wenn wir in unseren Städten verbrennen - verbrennen als Folge des Luftkriegs, dem Sebald eine eigene Ausarbeitung gewidmet hat, in den von den Bombenabwürfe ins Rollen gebrachten Feuerwalzen.

Nachdem er sich schon in seinem Heimatdorf W. in die Betrachtung einer Postkarte vertieft hatte, die den rauchenden Kegel des Vesuv zeigte, verfolgen Brände und Feuersbrünste Selysses fast an allen seinen Reisezielen. Manchester ist die Stadt der brennenden Schlote. Heute sind sie nahezu ausnahmslos niedergelegt und außer Betrieb. Damals aber rauchten sie zu Tausenden, einer neben dem andern, bei Tag sowohl als in der Nacht. Es waren diese viereckigen und runden Schlote und diese ungezählten Kamine, aus denen ein gelbgrauer Rauch drang, der sich dem Ankömmling tiefer einprägte als alles, was er bis dahin gesehen hatte. Der Name des Malers Aurach klingt wie ein leicht verunglücktes Anagramm auf den Rauch des alten Manchester.

In London träumt Selysses fasziniert den Bericht vom Brand Londons in Pepys’ Tagebuch nach: Ich sah es wachsen mehr und mehr. Es war nicht hell, es war ein grausig blutig böses Lohen, vom Wind getrieben durch die ganze Stadt. Zu Hunderten die toten Tauben auf dem Pflaster, das Federkleid versengt. Die Kirchen, Häuser, Holz und Mauersteine, alles brennt zugleich. Ist dies die letzte Stunde? Und andern Tags ein stiller Ascheregen - westwärts, bis über Windsorpark hinaus.

In Irland wird das wenige Meilen entfernte Haus der Randolphs, die gerade mit den nachmaligen Schwiegereltern Mrs. Ashburys dinierten, in Brand gesteckt. Insgesamt sollen zur Zeit des Bürgerkriegs zwei- bis dreihundert Herrenhäuser niedergebrannt worden sein.

In Paris sieht Selysses in der Bistrobar Le Havane am Boulevard Auguste Blanqui, einem selbst mitten am Tag ziemlich dusteren Lokal, auf einem hoch an der Wand angebrachten, wenigstens zwei Quadratmeter großen Fernsehschirm Bilder der Rauchwolken, die seit vielen Wochen in Indonesien die Dörfer und Städte erstickten und eine grauweiße Asche auf die Häuser streute.

Auf der Fahrt von Wien nach Venedig hat Selysses einen Feuertraum: Zuoberst aber glühend, transparent, feuerspeiend und funkenstiebend die Spitze des Schneebergs, hineinragend in die letzte Helligkeit des Himmels, an dem die seltsamsten graurosafarbenen Wolkengebilde trieben und zwischen diesen die Winterplaneten und die Sichel des Mondes. Es bestand für mich im Traum keinerlei Zweifel, daß es sich bei dem Vulkan um den Schneeberg handelte.

In Venedig dann fuhren wir gegen Mitternacht den Drachenschweif des Großen Kanals hinauf und hinaus auf das offene Wasser von wo aus man auf die jenseits meilenweit sich erstreckende Lichterfront der Raffinerien von Mestre hinübersieht. Vor uns lag der verglimmende Glanz unserer Welt, an dem wir, wie an einer Himmelstadt, uns nicht sattschauen konnten. Das Wunder des aus dem Kohlenstoff entstandenen Lebens geht in Flammen auf. Wortlos deutete mein Führer hinüber zu dem Inceneritor Communale. Ein totenstilles Betongehäuse unter einer weißen Rauchfahne. Brucia continuamente.

In Theresienstadt ist es der Traumwunsch nach einem Ausbruch des Erdfeuers: Südwärts, in einem weiten Halbrund, erhoben sich die Kegel der erloschenen böhmischen Vulkane, von denen ich mir in diesem bösen Traum wünschte, daß sie ausbrechen und alles ringsum überziehen möchten mit schwarzem Staub.

Die Zusammenstellung von Textauszügen ist in keiner Weise erschöpfend. Die Menschheit fällt ihrer Faszination für das Feuer zum Opfer. Sie lebt die längst Zeit schon exklusiv vom Feuer sowohl zur Vernichtung als zum Erhalt des Lebens und wird im Feuer umkommen. Spätestens dann, wenn auch das erhaltende Feuer aufgrund seines schieren Übermaßes umschlägt in Vernichtung. Alles ist so eingerichtet, daß es ohne Unterlaß brennt an allen Ecken und Enden, che brucia continuamente.

Den Beifall des Dichters finden allenfalls Brände der bescheidensten Art wie derjenige der Mutter Gottfried Kellers, die jahraus, jahrein, einen Tag wie den anderen, ein Feuerchen unterhielt, welches gleichsam von nichts brannte. Anders verhält es sich schon wieder mit dem Feuer, das der Onkel Evelyn unterhält, obwohl es gerade so ausschaut wie dasjenige im Haus der Kellers: Nur wenn mehrere Tage hintereinander die Temperatur auf dem Thermometer am Fensterrahmen zur Mittagszeit unter fünfzig Grad Fahrenheit sank, durfte die Haushälterin im Kamin ein winziges Feuerchen anschüren, das von fast gar nichts brannte. Es ist nicht einmal so sehr der Geiz als solcher, der Mißfallen erregt, sondern der Umstand, daß er allwöchentlich das von ihm nicht ausgegebene Geld an die Kongomission überweisen ließ zur Errettung der dort im Unglauben schmachtenden schwarzen Seelen, unangebracht und zu spät, wo doch die belgische und europäische Hauptstadt Brüssel, mit ihren immer bombastischer werdenden Gebäuden, erscheint wie über einer Hekatombe von schwarzen Leibern aus dem Kongo sich erhebendes Grabmal, Leiber, um deren Seele niemand besorgt gewesen war.

Feuer anderer Art - gedacht ist an das Feuer des Schreibens - bringen Rauchwölkchen anderer Art hervor: Ich sah den altgewordenen Roué, umgeben von den goldgeprägten Rängen der mehr als vierzigtausend Bänden umfassenden Bibliothek ganz für sich allein über einen Schreibsekretär gebeugt an einem trostlosen Novembernachmittag. Die Puderperücke hatte er beiseite gelegt und sein eigenes schütteres Haar schwebte, als Zeichen gewissermaßen der Auflösung seiner Körperlichkeit, wie ein kleines Wölkchen über seinem Haupt. Die linke Schulter ein wenig hochgezogen, schrieb er ununterbrochen fort.

Als habe der Dichter in einen Spiegel geschaut. Während die Schreibfeder noch wie rasend über das Papier schießt, löst sich bereits die, nach überkommener Auffassung, unsterbliche Seele als ein kleines Wölkchen über seinem Haupt. Wir würden dem verstorbenen Dichter fraglos Händel mit Pauken und Trompeten wünschen, samt hundert Salutschüssen als Startsignal für das Feuerwerk, ein schütteres weißes Rauchfähnchen in der Krüppelvegetation zwischen den zwei Fahrbändern der A 146 in Framingham Pigot, ein Feuerwerk das von fast gar nichts brennt, ist aber sicher das, was Sebald eher als angemessene Zelebration seines außerordentlichen Lebens und Schaffens verstanden hätte.

Wenn der Dichter sich, wie wir glauben, gern in dem kleinen Rauchwölkchen erkannt hätte, welche Größenordnung oder besser Winzigkeitsordnung sollen wir dann einem kleinen Sebaldstück zuweisen? Die des kurzen Aufglühens einer Zigarette vielleicht. Die Liebe zum kleinen Feuer hat Sebald auch auf die Zigarette übertragen und ihren dichterischen Lobpreis Ernst Herbeck überlassen. Dem gerät sie allerdings unversehens zu einem flammenden Inferno im Miniaturformat:

Die Zigarette
ist ein Monopol und muß
geraucht werden. Auf Dasssie
in Flammen aufgeht.

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