Randlos
Den Hauptdarstellern und den Komparsen sei dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen: sollte Sebald diesen Gleichbehandlungsimperativ nicht allein bei Pisanello verwirklicht gesehen sondern auch als Aufforderung für das eigene Werk verstanden haben, so ginge es ihm um das Recht der Komparsen nicht mehr als um den Schutz der Hauptdarsteller, als der eher noch gefährdeten Gattung. In den beiden Reise- und Wanderbüchern, Schwindel.Gefühle und Ringe des Saturn, treten, sieht man ab von Selysses, der weder Haupt- noch Nebendarsteller ist, ausschließlich um ihre Rechte angesichts fehlenden übergeordenten Personals ganz unbesorgte Komparsen auf. Da ist es nur billig, wenn die beiden Lebensgeschichtenbücher, die Ausgewanderten und Austerlitz, dem Zwang ihrer Anlage folgend, dem jeweiligen Protagonisten mehr Raum zugestehen. Wer aber, nach reiflicher Überlegung, geneigt ist, unter den Lebensgeschichten Ambros Adelwarth den ersten Platz einzuräumen, folgt dabei womöglich auch dem Eindruck, daß der Hauptdarsteller hier von geringer Sichtbarkeit und von den Komparsen kaum unterscheidbar ist.
Persönlich begegnet ist Selysses dem bei dieser Gelegenheit unter der Vielzahl der Verwandten versteckten Onkel Ambros Adelwarth nur einmal, als Kind noch, auf einer Familienfeier. Versteckt bleibt der Onkel auch in der Folge hinter den Verwandten, die von seinem Leben Zeugnis geben, ein Zeugnis, das seinerseits zum großen Teil auf Hörensagen beruht und dessen Authentizität sich nicht näher überprüfen läßt. Adelwarth bleibt verborgen hinter dem japanischen Legationsrat, dessen Leben er für ein Jahr teilt, verborgen hinter Dr. Abramsky, der dabei war, als er im Sanatorium Samaria zu Tode gebracht wurde. Adelwarths Lebenslauf zeichnet sich nur fragmentarisch ab, immer wieder taucht er am Horizont auf wie ein Wüstenwanderer, und tatsächlich hat er Cosmo Solomon begleitend die türkischen Länder und palästinensischen Wüstenstriche bereist. Ohne die Verpflichtung gegenüber dem Titel Die Ausgewanderten, hätte die Erzählung auch nach Cosmo Solomon benannt werden können, und wir wissen nicht recht, ob wir es mit zwei Hauptdarstellern oder mit zwei Komparsen zu tun haben.
Nabokow macht in seiner Gogolstudie aufmerksam auf die zahlreichen Personen, die in den Toten Seelen jeweils einmal nur mit ihrem Namen erwähnt werden und keine andere Funktion erfüllen als die, sofort wieder zu verschwinden und vergessen zu werden, Komparsen der untersten Kategorie, denen die Daseinsberechtigung nur vorgegaukelt wird, Parias der Literatur, wie sie es in Sebalds Werk nicht gibt. Aber auch die meisten seiner Komparsen treten nur einmal auf. Der kurze einmalige Auftritt ist eine hinreichende nicht aber notwendige Bestimmung für die Einordnung als Komparse. Komparsen mit mehreren Auftritten finden sich verstärkt in den Büchern, die Protagonisten haben, in Austerlitz etwa das Predigerpaar oder Gerald Fitzpatrick. Das führt aber nicht zu einer Zurücksetzung der Komparsen mit nur einem Auftritt, man denke nur an die unvergeßliche Penelope, die linkshändig das Kreuzworträtsel auf der letzen Seite des Telegraph löst.
Nabokow selbst tritt mit seinem Schmetterlingsnetz in den Ausgewanderten mehrfach als namenloser geisterhafter Komparse auf, vergessen wird man ihn nicht, Aurach hält sein Auftauchen auf dem Grammont in einem Bild fest. Einige der typischerweise nur einmal auftauchenden Komparsen wurden in Gruppen erfaßt, so die Empfangsdamen, darunter die in der U-Bahnstation mit der dunklen Vorhalle in einer Art Schalterhäuschen sitzende sehr schwarze Negerfrau; unter den Mitreisenden treffen wir eine veritable Königin, die in einem Buch liest, das sich später auf keine Art und Weise bibliographieren läßt, obschon es ausfindig zu machen, für Selysses von der größten Wichtigkeit gewesen wäre; unter den Lesegefährten den Bibliothekar in Verona, der sich ruhig über seine Arbeit beugt und mit gleichmäßigen Schriftzügen die Zeilen füllt, die er zuvor gezogen hatte; die einfachen Leute in der Ortschaft W. und anderswo, wie die Frau Unsinn mit ihrem Konsumgeschäft, in dem sie eine Pyramide aus goldenen Sanellawürfeln errichtet hatte, eine Art Vorweihnachtswunder als Anzeichen der auch in W. anhebenden neuen Zeit. Über jeden einzelnen und jede einzelne sind wir froh und darüber, daß sie in so großer Zahl versammelt sind.
Wenn die nur für einen Augenblick gesehene sehr schwarze Negerfrau in ihrem Schalterhäuschen in der dunklen Vorhalle zur U-Bahnstation, an der nie jemand ein- oder aussteigt, tief zu denken gibt, so daß man sie, auch wenn das Buch längst geschlossen ist, immer wieder vor Augen hat, so gilt das nicht weniger für den auffallend hell gekleideten Giorgio Santini, der den Strohhut des San Giorgio in der Hand hat. Santini sehen wir einmal im Konsulat und dann nicht wieder, unsere Gedanken kann er gleichwohl dauerhaft beflügeln. Maleachi in Venedig und Salvatore Altamura in Verona erscheinen als einfache Reisebekanntschaften und erweisen sich dann als Prophet und Heiland, die tiefsten Geheimnisse werden eher von den Komparsen als von den Protagonisten verwahrt.
Die starke Stellung der Komparsen, ihre Freiheit und Eigenständigkeit, ihre Verpflichtung allenfalls gegenüber den tieferliegenden Motivgeschichten, ist nur denkbar in einem Prosawerk, das auf Romanintrigen ganz verzichtet, wie in den Schwindel.Gefühlen und den Ringen des Saturn oder aber doch weitgehend, wie in den beiden anderen Bänden. Entfernt noch scheinen Sebalds Bücher von François Julliens eigentlich einem ganz anderen Landstrich unseres Planeten zugedachten Éloge de la fadeur erfaßt, insofern als sich die Prosa unbeirrt auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn dahinbewegt, dabei alle Extreme einebnet, im monotonen Raum jeden Reichtum bewahrt und keine Ränder im Sinne benachteiligter Bezirke enthält. Der verschiedentlich erhobene Vorwurf, Sebald marginalisiere die Frauen, ist ist in einem Werk ohne Rand gegenstandslos. Die männlichen Protagonisten aber, die Ausgewanderten, treten vor uns unter dem Grußwort Morituri vos salutant und dann hinaus über den Rand der verlorenen Ewigkeit, den Rand, an dessen Beseitigung alle Worte scheitern.
Die Komparsen sind zum großen Teil stationär, an einen Ort gebunden, als schon fast pflanzenhafter Teil ihrer Umgebung. Alec Garrad wird sein Modellbauatelier nicht mehr verlassen, regungslos steht die chilenische Araukarie auf dem Vorplatz, sogar die Enten auf dem Wasser rühren sich nicht. Le Strange wird seine Ländereien um Manor House in Henstead gelegenen Ländereien nicht verlassen, Mathild, die sich lange hält, bis gut über achtzig, nicht die Ortschaft W. im Allgäu und der Dichter Herbeck nicht die Ortschaft Klosterneuburg bei Wien, Dr. Abramsky wird in seiner Bleibe verharren mit den einzigen Ziel zu erleben, wie die Narrenburg des Sanatoriums in sich zusammensinkt und nichts bleibt als ein Häufchen puderfeines blütenstaubähnliches Holzmehl. Während die Genannten sowohl als literarische Gestalten als auch in einer gedachten Realität stationär bleiben, wissen wir, daß die Empfangsdamen im wahren Leben am Abend irgendwann hinter ihren Tischen und aus ihren Gehäusen hervortreten würden, um in ein anderes, uns nicht bekanntes Dasein überzuwechseln, und doch sind sie für uns wie gebannt an ihren Platz, die sehr schwarze Negerfrau in ihrem Schalterhäuschen, die Dame unbestimmten Alters in einer lilafarbenen Bluse und mit einer altmodisch gewellten Frisur hinter dem Kassentisch im Ghettomuseum Terezín, die jüngere Frau in der Casa Bonaparte Ajaccio wird auf ewig hinter dem Tresen in einem schwarzledernen zurückgekippten Bürosessel sitzen, ja, beinahe hätte man sagen können, liegen, so daß man förmlich über den Tresenrand zu ihr hinunterschauen muß. Aber auch die Protagonisten nähern sich einer immer seßhafteren Lebensweise an. Aurach war ohnehin mit größter Mühe nur zu bewegen, Manchester noch einmal zu verlassen, Dr. Selwyn ist zu einem Teil seines Gartens geworden, und auch Bereyter scheint, bevor er über den Rand tritt, im Garten Mme Landaus seine Heimat gefunden zu haben.
Die ortsfesten Personen leben in der Regel allein für sich, ein dem Sebaldleser so vertrauter Umstand, daß er ihn kaum noch bemerkt. Le Stranges Arrangement mit der Haushälterin Florence Barnes akzentuiert nur sein Alleinsein. An den Hotelrezeptionen entsteht kein Gedränge und an den Einlaßkassen der Museen bilden sich keine Schlangen. Die einsamste von allen ist die sehr schwarze Negerfrau in ihrem Schalterhäuschen zum Eingang der Station, an der nie jemand aus- oder einsteigt. Auch Selysses wechselt nur aus gebührender Entfernung einige Blicke mit der dunklen Frau, dann verläßt ihn der Mut, und den entscheidenden Schritt hinein in den Schalterraum wagt er nicht zu tun. Der Leser reibt sich fast schon verwundert die Augen, als Selysses im deutschen Konsulat zu Mailand auf eine komplette Familie bestehend aus dem Elternpaar, drei Töchtern und einer Großmutter trifft. Aber die Artistenfamilie ist in keiner Weise ortsfest, und zudem trifft man sich sozusagen auf exterritorialem Gelände. Luciana Michelottis Familie tritt erst nach längerer Zeit in Erscheinung und dann nur kurz, im Zusammenhang mit dem verlorenen Paß. Von Selysses wird Lucianas Familie gezielt übersehen, wie sonst hätte er sich mit ihr trauen lassen können.
Die Textbewegung wird damit nicht allein von dem rast- und ortlosen Selysses bestimmt, sondern vom Gegensatz zwischen seinem Reisen und Wandern und den vielen stationären Komparsen, so daß der Bewegungsmodus dem eines äußerst langsamen Slalomläufers zwischen den Toren ähnelt. Naturgemäß aber sind bei diesem Lauf nicht alle menschlichen Richtungsmale unbeweglich. Als Selysses in Mailand den Zug verläßt, sind das Mädchen mit der vielfarbigen Jacke und die Franziskanerschwester längst schon verschwunden, anders als bei der immerfort in ihrem Schalterhäuschen in der dunklen Vorhalle zur U-Bahnstation sitzenden sehr schwarzen Negerfrau, es gibt es keinen Ort, an dem er sie wiedertreffen könnte, und als ein anderer Zug hinein nach Bonn rollte, ist die Winterkönigin, die hier aussteigt, ohne daß er noch etwas zu ihr hätte sagen können, für immer verloren. Unter den Protagonisten sind Adelwarth und Austerlitz die Unsteten. Dabei bewegt sich Adelwarth, abgesehen von der frühen Begegnung beim Familienfest von Selysses zeitlich und räumlich wie ein Schatten am Horizont. Austerlitz und Selysses dagegen treffen einander immer an Überschneidungspunkten ihrer unterschiedlichen Reiserouten, eines der Charakteristika, das den Rhythmus dieses Buches von dem der anderen erheblich unterscheidet.
Pierre Bourdieu hat seinen Règles de l’art einen Prolog vorangestellt, in dem er zeigt, wie sich in Flauberts Éducation sentimentale die französische Sozialstruktur formgebend auswirkt. Dabei kommt dem Soziologen der hohe Soziologisierungsgrad der französischen Romanliteratur des neunzehnten Jahrhunderts entgegen, die er im Grunde fortschreiben kann. Die Romane handelt von Menschen, die vehement ihren Platz in der Gesellschaft suchen, während in der zeitgleichen deutschen oder auch in der unvergleichlichen russischen dieser Jahre eher nach dem Ausgang gesucht wird. Auch in Sebald mit seinen auf Auswanderung bedachten Hauptdarstellern und den vielen Komparsen, die ihr Leben hinter Rezeptionen und in Schalterhäuschen oder versunken in Bücher verbringen, hätte Bourdieu ein für seine Zwecke weniger ergiebiges Studienobjekt gefunden. Wollte ein zukünftiger Soziologe ausgehend von Sebalds Werk als einzigem verbliebenen Zeugnis ein Bild von der untergegangenen europäischen Gesellschaft entwerfen, wäre es ein Bild fern der Wirklichkeit und nahe der Wahrheit, ein Bild mithin, das den gegenwärtigen Leseeindruck bestätigen würde. Die Komparsin Janine Rosalind Dakyns hatte in ihren Flaubertstudien eine andere Forschungsrichtung eingeschlagen und sich den Fragen des Sandkorns verschrieben.
Den Hauptdarstellern und den Komparsen sei dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen: sollte Sebald diesen Gleichbehandlungsimperativ nicht allein bei Pisanello verwirklicht gesehen sondern auch als Aufforderung für das eigene Werk verstanden haben, so ginge es ihm um das Recht der Komparsen nicht mehr als um den Schutz der Hauptdarsteller, als der eher noch gefährdeten Gattung. In den beiden Reise- und Wanderbüchern, Schwindel.Gefühle und Ringe des Saturn, treten, sieht man ab von Selysses, der weder Haupt- noch Nebendarsteller ist, ausschließlich um ihre Rechte angesichts fehlenden übergeordenten Personals ganz unbesorgte Komparsen auf. Da ist es nur billig, wenn die beiden Lebensgeschichtenbücher, die Ausgewanderten und Austerlitz, dem Zwang ihrer Anlage folgend, dem jeweiligen Protagonisten mehr Raum zugestehen. Wer aber, nach reiflicher Überlegung, geneigt ist, unter den Lebensgeschichten Ambros Adelwarth den ersten Platz einzuräumen, folgt dabei womöglich auch dem Eindruck, daß der Hauptdarsteller hier von geringer Sichtbarkeit und von den Komparsen kaum unterscheidbar ist.
Persönlich begegnet ist Selysses dem bei dieser Gelegenheit unter der Vielzahl der Verwandten versteckten Onkel Ambros Adelwarth nur einmal, als Kind noch, auf einer Familienfeier. Versteckt bleibt der Onkel auch in der Folge hinter den Verwandten, die von seinem Leben Zeugnis geben, ein Zeugnis, das seinerseits zum großen Teil auf Hörensagen beruht und dessen Authentizität sich nicht näher überprüfen läßt. Adelwarth bleibt verborgen hinter dem japanischen Legationsrat, dessen Leben er für ein Jahr teilt, verborgen hinter Dr. Abramsky, der dabei war, als er im Sanatorium Samaria zu Tode gebracht wurde. Adelwarths Lebenslauf zeichnet sich nur fragmentarisch ab, immer wieder taucht er am Horizont auf wie ein Wüstenwanderer, und tatsächlich hat er Cosmo Solomon begleitend die türkischen Länder und palästinensischen Wüstenstriche bereist. Ohne die Verpflichtung gegenüber dem Titel Die Ausgewanderten, hätte die Erzählung auch nach Cosmo Solomon benannt werden können, und wir wissen nicht recht, ob wir es mit zwei Hauptdarstellern oder mit zwei Komparsen zu tun haben.
Nabokow macht in seiner Gogolstudie aufmerksam auf die zahlreichen Personen, die in den Toten Seelen jeweils einmal nur mit ihrem Namen erwähnt werden und keine andere Funktion erfüllen als die, sofort wieder zu verschwinden und vergessen zu werden, Komparsen der untersten Kategorie, denen die Daseinsberechtigung nur vorgegaukelt wird, Parias der Literatur, wie sie es in Sebalds Werk nicht gibt. Aber auch die meisten seiner Komparsen treten nur einmal auf. Der kurze einmalige Auftritt ist eine hinreichende nicht aber notwendige Bestimmung für die Einordnung als Komparse. Komparsen mit mehreren Auftritten finden sich verstärkt in den Büchern, die Protagonisten haben, in Austerlitz etwa das Predigerpaar oder Gerald Fitzpatrick. Das führt aber nicht zu einer Zurücksetzung der Komparsen mit nur einem Auftritt, man denke nur an die unvergeßliche Penelope, die linkshändig das Kreuzworträtsel auf der letzen Seite des Telegraph löst.
Nabokow selbst tritt mit seinem Schmetterlingsnetz in den Ausgewanderten mehrfach als namenloser geisterhafter Komparse auf, vergessen wird man ihn nicht, Aurach hält sein Auftauchen auf dem Grammont in einem Bild fest. Einige der typischerweise nur einmal auftauchenden Komparsen wurden in Gruppen erfaßt, so die Empfangsdamen, darunter die in der U-Bahnstation mit der dunklen Vorhalle in einer Art Schalterhäuschen sitzende sehr schwarze Negerfrau; unter den Mitreisenden treffen wir eine veritable Königin, die in einem Buch liest, das sich später auf keine Art und Weise bibliographieren läßt, obschon es ausfindig zu machen, für Selysses von der größten Wichtigkeit gewesen wäre; unter den Lesegefährten den Bibliothekar in Verona, der sich ruhig über seine Arbeit beugt und mit gleichmäßigen Schriftzügen die Zeilen füllt, die er zuvor gezogen hatte; die einfachen Leute in der Ortschaft W. und anderswo, wie die Frau Unsinn mit ihrem Konsumgeschäft, in dem sie eine Pyramide aus goldenen Sanellawürfeln errichtet hatte, eine Art Vorweihnachtswunder als Anzeichen der auch in W. anhebenden neuen Zeit. Über jeden einzelnen und jede einzelne sind wir froh und darüber, daß sie in so großer Zahl versammelt sind.
Wenn die nur für einen Augenblick gesehene sehr schwarze Negerfrau in ihrem Schalterhäuschen in der dunklen Vorhalle zur U-Bahnstation, an der nie jemand ein- oder aussteigt, tief zu denken gibt, so daß man sie, auch wenn das Buch längst geschlossen ist, immer wieder vor Augen hat, so gilt das nicht weniger für den auffallend hell gekleideten Giorgio Santini, der den Strohhut des San Giorgio in der Hand hat. Santini sehen wir einmal im Konsulat und dann nicht wieder, unsere Gedanken kann er gleichwohl dauerhaft beflügeln. Maleachi in Venedig und Salvatore Altamura in Verona erscheinen als einfache Reisebekanntschaften und erweisen sich dann als Prophet und Heiland, die tiefsten Geheimnisse werden eher von den Komparsen als von den Protagonisten verwahrt.
Die starke Stellung der Komparsen, ihre Freiheit und Eigenständigkeit, ihre Verpflichtung allenfalls gegenüber den tieferliegenden Motivgeschichten, ist nur denkbar in einem Prosawerk, das auf Romanintrigen ganz verzichtet, wie in den Schwindel.Gefühlen und den Ringen des Saturn oder aber doch weitgehend, wie in den beiden anderen Bänden. Entfernt noch scheinen Sebalds Bücher von François Julliens eigentlich einem ganz anderen Landstrich unseres Planeten zugedachten Éloge de la fadeur erfaßt, insofern als sich die Prosa unbeirrt auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn dahinbewegt, dabei alle Extreme einebnet, im monotonen Raum jeden Reichtum bewahrt und keine Ränder im Sinne benachteiligter Bezirke enthält. Der verschiedentlich erhobene Vorwurf, Sebald marginalisiere die Frauen, ist ist in einem Werk ohne Rand gegenstandslos. Die männlichen Protagonisten aber, die Ausgewanderten, treten vor uns unter dem Grußwort Morituri vos salutant und dann hinaus über den Rand der verlorenen Ewigkeit, den Rand, an dessen Beseitigung alle Worte scheitern.
Die Komparsen sind zum großen Teil stationär, an einen Ort gebunden, als schon fast pflanzenhafter Teil ihrer Umgebung. Alec Garrad wird sein Modellbauatelier nicht mehr verlassen, regungslos steht die chilenische Araukarie auf dem Vorplatz, sogar die Enten auf dem Wasser rühren sich nicht. Le Strange wird seine Ländereien um Manor House in Henstead gelegenen Ländereien nicht verlassen, Mathild, die sich lange hält, bis gut über achtzig, nicht die Ortschaft W. im Allgäu und der Dichter Herbeck nicht die Ortschaft Klosterneuburg bei Wien, Dr. Abramsky wird in seiner Bleibe verharren mit den einzigen Ziel zu erleben, wie die Narrenburg des Sanatoriums in sich zusammensinkt und nichts bleibt als ein Häufchen puderfeines blütenstaubähnliches Holzmehl. Während die Genannten sowohl als literarische Gestalten als auch in einer gedachten Realität stationär bleiben, wissen wir, daß die Empfangsdamen im wahren Leben am Abend irgendwann hinter ihren Tischen und aus ihren Gehäusen hervortreten würden, um in ein anderes, uns nicht bekanntes Dasein überzuwechseln, und doch sind sie für uns wie gebannt an ihren Platz, die sehr schwarze Negerfrau in ihrem Schalterhäuschen, die Dame unbestimmten Alters in einer lilafarbenen Bluse und mit einer altmodisch gewellten Frisur hinter dem Kassentisch im Ghettomuseum Terezín, die jüngere Frau in der Casa Bonaparte Ajaccio wird auf ewig hinter dem Tresen in einem schwarzledernen zurückgekippten Bürosessel sitzen, ja, beinahe hätte man sagen können, liegen, so daß man förmlich über den Tresenrand zu ihr hinunterschauen muß. Aber auch die Protagonisten nähern sich einer immer seßhafteren Lebensweise an. Aurach war ohnehin mit größter Mühe nur zu bewegen, Manchester noch einmal zu verlassen, Dr. Selwyn ist zu einem Teil seines Gartens geworden, und auch Bereyter scheint, bevor er über den Rand tritt, im Garten Mme Landaus seine Heimat gefunden zu haben.
Die ortsfesten Personen leben in der Regel allein für sich, ein dem Sebaldleser so vertrauter Umstand, daß er ihn kaum noch bemerkt. Le Stranges Arrangement mit der Haushälterin Florence Barnes akzentuiert nur sein Alleinsein. An den Hotelrezeptionen entsteht kein Gedränge und an den Einlaßkassen der Museen bilden sich keine Schlangen. Die einsamste von allen ist die sehr schwarze Negerfrau in ihrem Schalterhäuschen zum Eingang der Station, an der nie jemand aus- oder einsteigt. Auch Selysses wechselt nur aus gebührender Entfernung einige Blicke mit der dunklen Frau, dann verläßt ihn der Mut, und den entscheidenden Schritt hinein in den Schalterraum wagt er nicht zu tun. Der Leser reibt sich fast schon verwundert die Augen, als Selysses im deutschen Konsulat zu Mailand auf eine komplette Familie bestehend aus dem Elternpaar, drei Töchtern und einer Großmutter trifft. Aber die Artistenfamilie ist in keiner Weise ortsfest, und zudem trifft man sich sozusagen auf exterritorialem Gelände. Luciana Michelottis Familie tritt erst nach längerer Zeit in Erscheinung und dann nur kurz, im Zusammenhang mit dem verlorenen Paß. Von Selysses wird Lucianas Familie gezielt übersehen, wie sonst hätte er sich mit ihr trauen lassen können.
Die Textbewegung wird damit nicht allein von dem rast- und ortlosen Selysses bestimmt, sondern vom Gegensatz zwischen seinem Reisen und Wandern und den vielen stationären Komparsen, so daß der Bewegungsmodus dem eines äußerst langsamen Slalomläufers zwischen den Toren ähnelt. Naturgemäß aber sind bei diesem Lauf nicht alle menschlichen Richtungsmale unbeweglich. Als Selysses in Mailand den Zug verläßt, sind das Mädchen mit der vielfarbigen Jacke und die Franziskanerschwester längst schon verschwunden, anders als bei der immerfort in ihrem Schalterhäuschen in der dunklen Vorhalle zur U-Bahnstation sitzenden sehr schwarzen Negerfrau, es gibt es keinen Ort, an dem er sie wiedertreffen könnte, und als ein anderer Zug hinein nach Bonn rollte, ist die Winterkönigin, die hier aussteigt, ohne daß er noch etwas zu ihr hätte sagen können, für immer verloren. Unter den Protagonisten sind Adelwarth und Austerlitz die Unsteten. Dabei bewegt sich Adelwarth, abgesehen von der frühen Begegnung beim Familienfest von Selysses zeitlich und räumlich wie ein Schatten am Horizont. Austerlitz und Selysses dagegen treffen einander immer an Überschneidungspunkten ihrer unterschiedlichen Reiserouten, eines der Charakteristika, das den Rhythmus dieses Buches von dem der anderen erheblich unterscheidet.
Pierre Bourdieu hat seinen Règles de l’art einen Prolog vorangestellt, in dem er zeigt, wie sich in Flauberts Éducation sentimentale die französische Sozialstruktur formgebend auswirkt. Dabei kommt dem Soziologen der hohe Soziologisierungsgrad der französischen Romanliteratur des neunzehnten Jahrhunderts entgegen, die er im Grunde fortschreiben kann. Die Romane handelt von Menschen, die vehement ihren Platz in der Gesellschaft suchen, während in der zeitgleichen deutschen oder auch in der unvergleichlichen russischen dieser Jahre eher nach dem Ausgang gesucht wird. Auch in Sebald mit seinen auf Auswanderung bedachten Hauptdarstellern und den vielen Komparsen, die ihr Leben hinter Rezeptionen und in Schalterhäuschen oder versunken in Bücher verbringen, hätte Bourdieu ein für seine Zwecke weniger ergiebiges Studienobjekt gefunden. Wollte ein zukünftiger Soziologe ausgehend von Sebalds Werk als einzigem verbliebenen Zeugnis ein Bild von der untergegangenen europäischen Gesellschaft entwerfen, wäre es ein Bild fern der Wirklichkeit und nahe der Wahrheit, ein Bild mithin, das den gegenwärtigen Leseeindruck bestätigen würde. Die Komparsin Janine Rosalind Dakyns hatte in ihren Flaubertstudien eine andere Forschungsrichtung eingeschlagen und sich den Fragen des Sandkorns verschrieben.
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