Mittwoch, 27. November 2019

Tynged yr iaith

Emyr 
a llais y pregethwr yn sio ymlaen yn felfedaidd

An wohl mehr als fünfhundert sonntägliche Gottesdiensten der Predigers Emyr Elias hatte Dafydd Elias alias Jacques Austerlitz teilgenommen. Die Predigten gingen dem Knaben, gleichgültig ob sie in der walisischen oder der englischen Sprache gehalten wurden, größtenteils über den Kopf hinweg, nur soviel verstand er, es war immer von der Sündhaftigkeit und der Bestrafung der Menschen die Rede, von Feuer und Asche und dem drohenden Ende der Welt.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es in Nordwales, Gwynedd, noch in größerer Zahl monoglotte Sprecher und fromme Kirchgänger, deren geistige und kulturelle Bedürfnisse durch die allsonntägliche, ausschließlich in kymrischer Sprache gehaltene Predigt in der Tradition des großen calvinistischen Methodistenpredigers John Elias und anderer seinesgleichen vollauf zufriedengestellt wurde. Die Kirchen und Bethäuser waren Bastionen keltischer Kultur und Sprache. Die fast immer und auf allen Gebieten zwiespältigen Eliten plädierten dann aber, nachdem der Waliser Lloyd George es bis zum britischen Premierminister gebracht hatte, im Interesse des Fortschritts der Briten und der Menschheit im allgemeinen für die englische Einheitssprache im Königsreich. Saunders Lewis wiederum hat mit seinem berühmten Radiovortrag aus dem Jahr 1963: Tynged yr iaith (Das Schicksal der Sprache), besonders viele junge Menschen, die dem Vortrag in kymrischer Sprache immerhin noch folgen konnten, aus ihrer kulturellen Lethargie aufgeweckt. Der wahlweise englisch oder walisisch predigende Emyr Elias markiert die in diesen Jahren bestehende Situation, der Schuster Evan (Ifan), in dessen Werkstatt Austerlitz die walisische Sprache wie im Flug erlernt hatte, das unbeirrte kulturelle Beharrungsvermögen der einfachen Leute. Emyr Humphreys, der inzwischen hundertjährige, einsprachig englisch erzogene und in der Folge auch überwiegend englisch schreibende Nestor der neueren walisischen Erzählliteratur, betont die Schutzfunktion der EU für die kleineren europäischen Sprachen, darunter prominent die keltischen, im Angesicht des immer auf sprachliche Einheit drängenden Nationalstaatsgedankens. Tatsächlich ist dank der EU das Hinweisschild: Interdit de cracher par terre ou de parler breton inzwischen aus den französischen öffentlichen Verkehrsmitteln verschwunden.

Mittwoch, 20. November 2019

Aufbruch

Nördliche Gegend

Eine eher nördlich anmutende Gegend erhebt sich in den blauen Himmel des Freskos, das Pisanello über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini der Chiesa Sant’Anastasia gemalt hat. Bei den hellgrauen Gebäuden mit den Türmen, Kuppeln und Zinnen könnte es sich um eine Burganlage des Brenin Arthur handeln. Die Szenerie im Vordergrund ist die des Aufbruchs. Vertraut man den Berichten des Mabinogion, so sind die Ritter in den Burgen und Schlössern mit kaum mehr beschäftigt als mit Tafeln, Zechen und Würfel- oder Brettspiel, das Verlangen nach Abwechslung ist mehr als verständlich. In der Mehrzahl der Fälle bricht ein einzelner Ritter auf, wenn die Situation es erfordert aber auch eine ganze Schwadron. Als Geraint sich aufmacht, das Herzogtum seines Vaters in Kernow zu stabilisieren, wird er aus gegebenen Grund begleitet von Gwalchmai fab Gwyar, Rhigone fab Brenin Iwerddon, Ondiaw fab Dug Bwrgwyn, Hywel fab Emyr Llydaw, nicht zu vergessen Cai fab Cynyw, und einem Dutzend weiterer schlagkräftiger Recken. Warum allerdings der von Pisanello dargestellte Ritter, vorgeblich San Giorgio oder auch San Siôr, sich von einer Schar verwegen aussehender Gestalten begleiten läßt, bleibt unklar. Auf all den ungezählten Bildern, die die Tötung des Drachen dokumentieren, ist Giorgio oder Siôr allein mit der Bestie, wo sind unterdes der Kalmücke und die anderen sechs von Pisanello gemalten Berittenen geblieben? Würde man nicht auf der linken Hälfte des Freskos, wenn auch nur verwaschen, den Drachen erkennen, käme man womöglich gar nicht auf die Idee, in dem mit einer stattlichen Begleitung aufbrechenden Ritter San Siôr zu erkennen. Vielleicht hat sich Geraint mit einem Teil seiner Mannschaft auf das Fresko verirrt. - So oder so, das Untier wird liquidiert, doedd dim trugaredd i neb.

Der einsam aufbrechende Ritter hat in der Regel als Ziel die Ausschaltung eines Elements des Bösen vor Augen, ab und zu bricht er aber auch nur zu seinem Vergnügen auf. Owain lehnt höflich ab, als die Gräfin ihn einlädt, bei ihr zu bleiben, er wolle, so sagt er, durch Landschaften und Wüsten, durch Täler und über Höhen streifen. Immer wieder sind es anmutige Bachtäler, die die Dahinreitenden betören. Die Eingangssequenz vieler Westernfilme vermittelt uns einen authentischen Eindruck dieses Erlebens. Eine zerklüftete Landschaft, in der Ferne taucht hinter einem Felsvorsprung ein beweglicher Punkt auf, der Punkt rückt näher und wird größer, es ist ein Reiter, er zieht an uns vorbei, die Kamera folgt ihm beim Abstieg in ein Flußtal, er durchquert den Fluß, am anderen Flußufer tut sich ein weite Ebene auf, das Pferd verfällt in einen schnellen Trab, &c., ginge es nach uns, so könnte er immerfort so weiterreiten. Den mittelalterlichen Reiter trägt es von Schloß zu Schloß, andere Siedlungsformen werden kaum wahrgenommen, einmal werden im Mabinogion mähende Bauern am Wegrand erwähnt, dieses soziale Ungleichgewicht hat sich im Interesse der aufkeimenden Demokratie bei den moderneren Reitern der Neuen Welt geändert. Der Unterschied zwischen dem mit einem bestimmten Ziel und dem grundlos aufgebrochenen frühmittelalterlichen Ritter war nicht groß, auch der zu seiner Freude und zum Zeitvertreib Aufgebrochene trifft bald auf eine Herausforderung, der er sich stellen muß, ein marodierender schwarzer Ritter etwa oder eine fatale Bestie. Es sind aber nicht nur Mächte des Bösen, auf die der Ritter trifft, mit traumwandlerischer Sicherheit begegnet ihm alsbald schon das schönste Mädchen des von Menschen bewohnten Teils der Welt. Auch Siôr muß, wie das Bild belegt, im Interesse seines Jagdauftrags Abschied nehmen von einer ihm erkennbar wohlgesonnenen Schönen.

Wir treffen Adroddwr, den Erzähler, erstmals in Wien, aufgebrochen ist er, wie sich aus verschiedenen Hinweisen erschließen läßt, im Südosten Englands. Er reist immer allein, ein Aufbruch in oder mit einem Gefolge wie dargestellt auf dem Fresko über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini der Chiesa Sant’Anastasia ist unvorstellbar in seinem Fall. Von Wien aus bricht er auf nach Venedig, von Venedig nach Verona. Auch er, obwohl unterwegs ohne erkennbares Ziel, trifft, ohne daß er das gewollt hätte und ohne dem gewachsen zu sein, auf die Mächte des Bösen. Immer wieder hat er den Eindruck, zwei ihm feindlich gesonnene Augenpaare hätten ihn im Visier. Er stellt sich dem Übel nicht, sondern ergreift die Flucht, blamabel für den Ritter, der er allerdings nicht ist. Bei der zweiten Reise ist er besser aufgestellt. Als zwei junge Männer auf ihn zukommen, und er ihre Hände schon unter seiner Jacke spürt, läßt er die Schultertasche mit einem Schwung derart in sie hineinfahren läßt, daß sie sich nur noch davonmachen können. Zum Lohn für sein ritterliches Verhalten, so kann man es deuten, trifft er den unter dem Decknamen Giorgio Santini reisenden Giorgio oder Siôr als lebendige Gestalt in deutschen Konsulat zu Mailand. Diese Auszeichnung ist für Adroddwr nichts anderes als der Ritterschlag. Begegnungen mit den Schönen fehlen nicht. Die Franziskanerin und das junge Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern, von vollendeter Schönheit waren sie beide. Dann die Winterkönigin, dumm und stumm ist er dagestanden wie einst der von seiner besorgten Mutter in Ahnungslosigkeit gehaltene Peredur fab Efrog zu Beginn seiner später dann glänzenden Laufbahn. Die Begegnung mit Luciana Michelotti schließlich hat etwas von Trystan ac Esyllt, der Zaubertrank ist offenbar dem dem Reisenden immer wieder gereichten Ristretto beigegeben.

Eindrücke und Erwägungen dieser Art stellen sich ein, wenn man die Schwindel.Gefühle aus der Perspektive des Freskos über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini der Chiesa Sant’Anastasia unter besonderer Berücksichtigung der nördlich anmutende Gegend betrachtet, zugestandenermaßen eine mehr als exzentrische Perspektive.

Mittwoch, 13. November 2019

Sünde

Explosion

There he was, the bluebottle, shining and blue-green and full of sin. Ein Bluebottle voller Sünde, das ist eine berauschende Explosion der Unsinnigkeit, eine Umwandlung vom bluebottle fly zum Knight Bluebottle, eine paradoxe Versetzung in die heroische sündenfreie Zeit. Das schimmernd blaugrüne Insektenpanzer erweist sich als Rüstung, der fly swatter wird zum Schwert, wir bewegen uns auf der Ebene eines archaischen Heldenepos, Ramayana, Táin Bó Cúailnge oder die Erzählungen des Mabinogion. Aus dem Kampf geht Marlowe erwartungsgemäß siegreich hervor, die sterblichen Überreste des Knight Bluebottle drop to the carpet. In Venedig zieht ein mit Bergen von Müll beladener Kahn vorbei, auf dem eine große Ratte die Bordkante entlangläuft. Die Ratte mag der Bluebottle im Säugetierreich sein, es fehlt ihr der blaugrüne Panzer. Keineswegs auch ruht sie schutzlos aus auf einem Sonnenfleck, stürzt sich vielmehr kopfüber ins Wasser und entkommt so dem Schwertstreich des ohnehin schwertlosen Ritters. Der Dichter schaut sich verstärkt im Bereich der Mythologie nach Gegnern und Waffenbrüdern um, brodyr mewn breichiau. Marchog Siôr hatte sich unter den Heiligen, in der fortwährenden Bewegung zwischen Sünde und Gottgefälligkeit, nie wohl gefühlt und verläßt auf Grünewalds Altarbild ihre Gemeinschaft, um unter der Aufsicht Pisanellos Marchog Dragon zum ritterlichen Kampf herauszufordern. In der Chiesa Sant' Anastasia sehen wir ihn ausrücken, in der Nationalgalerie London liegt Dragon bereits leblos zu Füßen des Ritters, ein eher kleines, geringeltes und geflügeltes, blutig von der Sünde reingewaschenes Tier, möglicherweise ein Bruder des Knight Bluebottle. Siôr steht vorausgreifend da in nachchristlicher Sündenfreiheit.

Der Kampf war der Beruf der Ritter, die Jagd die bevorzugte Freizeitgestaltung, wie üblich liegt beides nicht weit auseinander. Gracchus, Siôrs Gefährte im mythische Duo, jagte nicht zum Zeitvertreib, er war, soweit man zurückschauen kann in die Vorzeit, ein Berufsjäger, eine Art Revierförster. Auf dieser Grundlage beteuert er seine Unschuld, die Freiheit von Schuld und Sünde. In der Tat hat er keine Ähnlichkeit mit Julian, dem späteren Heiligen, von dem der Dichter in der Darstellung Flauberts auf Korsika liest. Julian, ein grausames Kind, das aus Lust Tiere tötet, bald der Leidenschaft der Jagd verfällt und von dieser Besessenheit schließlich durch ein Wunder erlöst wird: Es stellen sich ihm im Wald eine unermeßliche Anzahl von Tieren entgegen, die er alle getötet hat, um am Ende vom letzten Hirsch verflucht zu werden: er werde seine beiden Eltern ermorden. Wie es im einzelnen um den Gracchus bestellt war in der Tiefe der archaischen Zeit, läßt sich nicht feststellen. Jedenfalls war er, anders als Julian, weder auffällig grausam noch andererseits auf Heiligkeit erpicht.

Meister der Taverne

Wellengang

Die großen alten Meister Grünwald, Tiepolo, Pisanello, der allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuspricht, der unvergleichliche Giotto, da Vincis fein gefiederte und gefächerte Zweige, unergründlich in ihrem scheinbar mit Gold oder Messing unterlegten Schwarzgrün, Turner an der Schwelle der Moderne, Hengge, wenig geachtet, obwohl das harte Leben der Waldarbeiter ihm so manches Denkmal verdankt, geachtet eher schon der der sich redlich mühende Meister der Krummenbacher Kapelle und schließlich die Meister der Taverne oder, wenn man so will, der Kaschemme.

Ein Seestück in einem mit goldener Ofenbronze gestrichenen knapp unter der Decke der PIZZERIA VERONA. Dargestellt ist ein Schiff, das auf einem türkisgrünen Wellenkamm mit schneeweißen Schaumkronen eben sich neigt, um in die unter seinem Bug sich öffnende Tiefe hinunterzustürzen. Das Seestück ist nur Teil einer umfassenden Innenraumgestaltung. Man nimmt Platz in einer mit Fischermetzen verhangenen Grotte, Boden und Wände sind in einem maritimen Blau gehalten und suggerieren, allseits von Wasser umgeben zu sein. Auf den Erzähler übt das Ensemble eine überraschend starke Wirkung aus, er muß sich an der Tischkante einhalten wie ein Seekranker an der Reling. Man kann das durchaus als eine Würdigung der eingebrachten Gestaltungskraft lesen. 

Die Freskomalerei im WADI HALFA bleibt dem Motiv des Seestücks treu, allerdings in der Form des Wüstenschiffs. Eine Karawane bewegt sich aus der fernsten Tiefe des Bildes heraus und über ein Wellengebirge von Dünen hinweg direkt auf den Betrachter zu. Die scheinbare Ungeschicktheit des Malers im Umgang mit der schwierigen Perspektive erweist sich in Wahrheit als eine besondere Kunstferigkeit, die die menschlichen Figuren sowohl als die Lasttiere in ihren Umrissen leicht verzerrt, so daß es, wenn man die Lider senkt, tatsächlich so ist, als erblicke man eine in der Helligkeit und Hitze zitternde Fata Morgana. Nicht umsonst und abgesehen von den köstlichen Gerichten schätzt Aurach das WADI HALFA höher als jedes andere Speiselokal, und insbesondere an Tagen, an denen er selbst mit Kohle gearbeitet und der pudrig feine Staub seine Haut mit einem metallischen Glanz imprägniert hatte, konnte es scheinen, als sei er soeben aus dem Wüstenbild herausgetreten und als gehöre er in es hinein.