Mittwoch, 25. Dezember 2019

Weltarm

Entomologie

Kafkas Käfer ist zweifellos der prominenteste Käfer überhaupt, nur ist er kein Käfer. Unter dem Panzer steckt, mit Heideggers Worten, weiterhin ein weltbildender Mensch, Gregor Samsa, und nicht ein weltarmes Tier. Das gilt gleichermaßen und umso mehr für den Erzähler der Ringe des Saturn, als er sich an der Fensterbrüstung mühsam emporzieht gleich dem armen Gregor, der, mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd, aus seinem Kabinett herausblickt. Die entomologisch-literarische Erforschung des Käfers als weltarmem Tier ist Raymond Chandler vorbehalten. In der Polizeistation beobachtet Marlowe, der Lieutenant ist noch nicht eingetroffen, auf der Schreibtischplatte einen schwarzglänzenden, rosagepunkteten Käfer mit einem rosa Kopf. Seine Fühler bewegen sich, als wolle er bald abheben. Er hebt aber nicht ab, sondern läuft ohne zu zögern weiter bis zum Rand des Tisches und darüber hinaus, stürzt am Boden auf den Rücken, schlägt wie hilfesuchend mit den Beinchen und stellt sich, als Erfolg und Hilfe ausbleiben, tot. Weiterhin ohne hilfreichen Retter - Marlowe verharrt in der neutralen Beobachterrolle - bemüht er sich erneut und schließlich gelingt es ihm aus eigener Kraft auf die Beine zu kommen, ziellos, so möchte man meinen, macht er sich auf ins Nirgendwo. Es scheint, als würde Marlowe im Gespräch mit dem inzwischen eingetroffenen Kommissar den Käfer vergessen, tatsächlich aber hat er beobachtet, wie das Tier bereits zwei Ecken des Zimmers erfolglos angesteuert hat und es nun mit der dritten versucht. In diesem Augenblick gibt Marlowe die wissenschaftliche Distanz auf und versucht seinerseits die Synthese von Weltarmut und Weltbildung, wenn auch auf entschieden andere Art als Kafka. Es scheint ihm, als sei das Tier die achtzehn Stockwerke zum Dienstzimmer des Kommissars heraufgestiegen nur um eine Freund zu finden, nämlich ihn, Marlowe. Er nimmt den Käfer auf vom Boden, fährt zusammen mit ihm im Fahrstuhl hinab und setzt ihn draußen hinter einem Busch aus. Wird er sich erneut auf den Weg machen ins achtzehnte Stockwerk? - vermutlich keine entomologisch begründbare Annahme. Über den weiteren Verbleib des Käfers ist nichts bekannt.

Montag, 23. Dezember 2019

Bodenschätze

Adnoddau mwynol


Wales war ein unterirdisches Land, im Süden die Steinkohle, im Norden die Schiefersteinbrüche. Den in Bala, Nordwales, stationierten Prediger Emyr Elias trägt es, in Begleitung seines Ziehsohnes Dafydd alias Austerlitz, bei seinen externen Einsätzen auch schon das ein oder andere Mal bis hinunter in den Süden. Der Ort, an dessen Namen Austerlitz sich nicht mehr erinnern kann, war von Kohlehalden umgeben, deren Ausläufer zu Teil bis in die Gassen hineinreichten, von ihrem Quartier aus konnte man einen Förderturm sehen mit einem riesigen Rad und weiter talabwärts sah man in regelmäßigen Abständen von jeweils drei oder vier Minuten hohe Feuer- und Funkengarben aus den Schmelzöfen eines Hüttenwerks stieben. Der Anblick des einmal ums andere im Feuerschein aufleuchtenden und gleich wieder in der Finsternis versinkenden Tals war es wohl, der Elias die von ihm am nächsten Morgen gehaltene Offenbarungspredigt eingab, eine Predigt über die Rache des Herrn, über Krieg und Verheerung, eine Predigt, bei der er sich bei weitem selbst übertraf. Auch die ausschließlich in der kymrischen Sprache verfaßten Bücher Kate Roberts‘ (1891–1985) - in Wales offiziell ausgerufen als Brenhines ein llên, Königin unserer Literatur - bestätigen die Oberhoheit der Prediger innerhalb der kymrischen Sprach- und Kulturgemeinschaft vor allem im bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein überwiegend monoglotten Norden. Mehr noch aber richtete Roberts ihr Augenmerk auf die Arbeiter in den Steinbrüchen, zu denen auch ihr Vater gehört hatte, von früher Jugend bis ins Alter. Zu nennen sind unter anderem ihr autobiographisch eingefärbter Roman Traed mewn cyffion (Füße in Ketten), besonders aber ihre Autobiographie Y lôn wen (Der weiße Weg). Im Roman werden die Härten des Lebens der Bergleute betont, lange harte Arbeit, geringer Lohn. Buaswn yn dweud ei fod yn ‎£ 5 y mis am rai blynyddoedd ac yn ‎£ 4 yn y amser gwannaf un: Ich würde sagen, es waren £ 5 pro Monat für einige Jahre und £ 4 in der schwächsten Zeit. Der jeden Monat neu festgelegte Betrag konnte aber auch auf ‎£ 3 sinken, wenn er ausnahmsweise auf ‎£ 7 stieg, breitete sich ein Gefühl von Wohlstand und Luxus aus. Auch £ 5 waren kein Hungerlohn, aber nur wenig darüber; eine seriöse vergleichende Kaufkrafteinschätzung ist allerdings kaum möglich. Überdies war das Leben der Bergleute gefahrvoll, digwyddai damweiniau yn aml yn y chwareli bychain yn y cyfnod hwn: besonders in den kleinen Steinbrüchen kam es zu dieser Zeit häufig zu Unfällen, tödliche Unfälle oder Unfälle mit der Folge langer oder dauerhafter Arbeitsunfähigkeit. Das wird auch in der Autobiographie nicht übergangen, vor allem aber wird erzählt von einer behütete Kindheit in einer kargen, für die Kinder aber glückhaften Lebenswelt. Pobl syml oeddynt, es waren einfache Leute, Rhosgadfan erscheint als eine Art Combray der wenig begüterten Schichten. Gadewais y pethau anhyfryd allan, die schlimmen, gottlosen Dinge, die es auch gab, habe ich allerdings ausgelassen, bekennt die Brenhines.

Gerade jetzt, wo es scheint als habe die Menschheit sich übernommen und ihren Lebensraum überfordert, versetzt man sich gern zurück in schlichtere Verhältnisse, das hinter dem Versprechen einer hellen Zukunft lauernde Unheil begann allerdings mit den bis in die Gassen hineinreichten Kohlenhalden und den Feuer- und Funkengarben aus den Schmelzöfen, brucia da allora continuamente.

Sonntag, 15. Dezember 2019

Schattenmenschen

Verborgene Gänge
 
Von dem dunklen Stiegenhaus zweigten auf jedem Stockwerk hinter doppelten Wänden verborgene Gänge ab, die angelegt worden waren, um der Herrschaft den Anblick der ständig mit den verschiedensten Aufgaben hin- und herlaufenden Dienstboten zu ersparen. Wie mag das Innere der Leute beschaffen gewesen sein, die mit der Vorstellung leben konnten, daß hinter den Wänden ihrer Wohn und Schlafzimmer immer die Schatten der Dienerschaft vorbeihuschten. Der Gedanke an die verborgenen Gänge und die darin verborgenen Schattenmenschen wird den Dichter aus der Bahn gebracht haben, lange wird er nachgedacht haben über die damit verbundenen Fragen, wenn er zu einem Ergebnis gekommen ist, hat er es uns nicht mitgeteilt, in seinem Werk findet sich dazu wenig, die Mehrheit seiner Figuren hat kein Dienstpersonal. Die zu Morton Petos Prinzenpalast gehörigen Butler, Kutscher, Chauffeure, Gärtner, Köchinnen, Nähmädchen und Kammerfrauen, werden erst sichtbar, als sie, aus dem Dienst entlassen, heraustreten aus dem nach einer Gasexplosion halb niedergebrannten Anwesen. Das Besitztum der Solomons am Rock Point auf der äußersten Spitze von Long Island ist ohne Bedienstete nicht denkbar, im Blickfeld ist aber nur Ambros Adelwarth als der Regent der Dienerschaft. Im wurde schon zu Lebzeiten des alten Solomon ein Haus in Mamaroneck überschrieben und auch die ihm unterstellten Dienstboten sowie die Gärtner und Chauffeure waren wohl keine im Schatten der Wände huschenden Gestalten.

Von Morten Petos Anwesen heißt es, es sei ein sehr weit abgelegener, quasi extraterritorialer Ort und man wisse nicht recht, ob man sich an der Küste des Nordmeers oder im Herzen des schwarzen Kontinent befände, und hier, nicht in den verborgenen Gängen, sondern in einer afrikanischen Freiluftveranstaltung treffen wir auf die leibhaftigen Schattenmenschen, Joseph Conrad hat es zu Papier gebracht und in den Ringen des Saturn ist es nachgezeichnet: Zwischen den Geröllhalden und unterhalb der hohen Felsenklippen sowie an den steilen Abhängen der Ufer, überall sieht man schwarze Figuren in Trupps bei der Arbeit. Ein Stück weit außerhalb des besiedelten Areals stößt man auf einen Platz, an dem die von Krankheit Zerstörten und von Hunger und Arbeit Ausgehöhlten zum Sterben sich niederlegen. Wie nach einem Massaker liegen sie da in dem gräulichen Dämmer auf dem Grunde der Schlucht. Offenbar hält man diese totgeweihten Schattenwesen nicht auf, wenn sie sich davon schleichen in den Busch.

Donnerstag, 12. Dezember 2019

Weg mit dem Geld

Störfaktor


You could tell by his eyes that he was plastered to the hairline, but otherwise he looked like any other nice young guy in a dinner jacket who had been spending to much money in a joint that exists for that purpose and for no other. Offenbar verfolgt Terry Lennox im The Dancer ein unter jungen Leuten verbreitetes Bedürfnis, dem unter anderen auch Cosmo Solomon nachgeht, wenn er in Luxushotels wie dem Breakers, dem Ponciana oder dem American Adelphi ungeheure Mengen Geld durchbringt, woran ihm offenbar vorab gelegen war. Anders Wittgenstein. Immer wenn der Erzähler auf eine Photographie von Wittgenstein stößt, blickt ihm Austerlitz aus ihm entgegen, oder, wenn er Austerlitz anschaut, ist ihm als sehe er in ihm den unglücklichen, in der Klarheit seiner logischen Überlegungen ebenso wie in der Verwirrung seiner Gefühle eingesperrten Denker. Die Ähnlichkeiten bestehen nicht nur im Aussehen und der Statur, sondern mehr noch in ihrem nur provisorisch eingerichteten Leben und in dem Wunsch, mit möglichste wenig auszulangen. Was die Befreiung vom Geld anbelangt, ist Wittgenstein nicht dem unmittelbaren Vorbild Lennox’s und Solomons gefolgt. Zunächst hat er mit bedeutenden Summen bedürftigen Poeten wie Rilke und Trakl geholfen und dann das ganze restliche Vermögen, weil es ihm beim Denken störte, seinen ohnehin noch vermögenderen Geschwistern überschrieben, aus seiner Perspektive schon fast ein Racheakt für ein unbekanntes Vergehen, ein Fluch. Tatsächlich ist keiner der unglücklichen Wittgensteins mit dem zusätzlichen Geld glücklicher geworden. Austerlitz hatte von Beginn an nicht unter großen Geldmengen zu leiden, und auch Marlowe, Lennox’s Freund und Feind, ist, wie jeder gute Privatdetektiv, immer auf einen nachhaltig niedrigen Kontostand bedacht.

Dienstag, 10. Dezember 2019

Namentlich bekannt

Mensch und Tier


Kein Mensch ist fertiggestellt ohne Namen, und wenn sein Name auch nur Heb-Enwau wäre. Kaum jemanden aber, der uns in den Städten begegnet, kennen wir zu unserem Glück beim Namen, schon die Kenntnis aller Vornamen wäre eine unerträgliche Fülle, kämen auch noch die Nachnamen hinzu, wäre es der Garaus.

Austerlitz kennt Penelope Peacefull beim Namen, weil er sie bewundert und ihr Antiquariat oft aufsucht. Er erfährt den Namen der Archivangestellten Tereza Ambrosová im Prager Staatsarchiv, während er sich des längeren mit ihr beratschlagt. Adroddwr, der Erzähler, kennt den Artisten Giorgio Santini beim Namen, weil er ihn beim Namen kennen muß, um den verborgenen Bezug zu San Giorgio herzustellen. Aus Gründen, die nicht näher erläutert werden müssen, kennt er die Hotelwirtin in Limone bei vollem Namen und verständlicherweise auch den Venezianer Malachio, mit dem er eine Bootstour unternimmt, namenlos bleibt dagegen die verschreckte junge Frau, die ihm im Hotel in Lowestoft bewirtet, ferner die Signora mit Vogelblick im Hotel Boston, Mailand sowie die Dame unbestimmten Alters, die in einer lilafarbenen Bluse den Einlaß zum Museum in Theresienstadt regelt und noch viele andere mehr. Wenn ihm in den Straßen von Wien namentlich bekannte aber längst verstorbene Bewohner aus der Ortschaft W. und obendrein der italienische Dichter Dante begegnen, kann das unberücksichtigt bleiben. Daß er während seines Aufenthalts in W. den Namen der zuständigen Dame im Engelwirt nicht irgendwann erfahren hat, ist unwahrscheinlich, er verrät den Namen aber nicht. Insgesamt hat sich der Erzähler gegen eine überbordende Namensfülle gut abgesichert.

Auch die, deren Namen wir nicht kennen, haben einen Namen und ebenso die, die uns gar nicht erst begegnen. Wenn Malachio zum Abschied ruft: Ci vediamo a Gerusalemme, heißt das soviel wie, wir haben uns getroffen, haben uns einander mit unserem Namen vorgestellt und werden uns nicht wiedersehen. Wir können einen vorläufigen Namen vergeben, Winterkönigin, bevor wir den wahren Namen erfahren. Bei den amerikanischen Ureinwohnern hatte man üblicherweise zwei Namen, einen für die Öffentlichkeit, wenn man das unter den Bedingungen der Prärie so sagen kann, und den wahren Namen, den man nur selber kannte. Von daher gesehen, kann man es bei Winterkönigin belassen. Auch und gerade die Toten haben Namen, in Kissingen lassen wir uns den Schlüssel zum israelitischen Friedhof geben und lesen: Hamburger, Kissinger, Wertheimer, Friedländer, Arnsberg, Frank, Auerbach, Grunwald, Leuthold, Seeligmann, Hertz, Goldstaub, Baumblatt, Blumenthal. Ferner neigen wir dazu, den Tieren unserer näheren Umgebung einen Namen zu geben, Toby etwa, was die Tiere davon halten, wissen wir nicht.

Freitag, 6. Dezember 2019

Dienstpersonal

Namen

Die prekäre Situation, in der sich die walisische Haushälterin befindet, wurde entschärft durch die Feststellung, daß die regelmäßigen Angriffe der Papageien bei ihr weder physische noch psychische Schäden hinterlassen, und doch bleiben Fragen offen. Warum erfahren wir nicht ihren Namen, wie es die Höflichkeit gebietet, Mererid Jones vielleicht oder Rhiannon Ifans; holen wir es nach und nennen sie Mererid Ifans. Warum ist nichts zu hören von den Aufgaben, die sie im Haus verrichtet, von ihrem Status in der Gemeinschaft, Austerlitz hält sich lange genug auf in Andromeda Lodge, um über diese Dinge Bescheid zu wissen. Warum wirft ihr niemand bei den Attacken der Vögel wenigstens ein freundliches Scherz- und Trostwort zu?

Von der Wirtschafterin, oder wie man sie nennen will, im Haus der Selwyns erfährt man immerhin den Vornamen, Aileen, und wenn ihr Aufgabenfeld nicht beschrieben wird, dann wohl deshalb, weil sie keins hat. Zu jeder Stunde war sie in der finsteren Küche beschäftigt, meist machte sie sich über dem Ausguß zu schaffen. Welchen Arbeiten sie oblag, blieb unverständlich, eine Mahlzeit jedenfalls hat sie nie bereitet. Von dem dunklen Stiegenhaus zweigten auf jedem Stockwerk hinter doppelten Wänden verborgene Gänge ab, die angelegt worden waren, um der Herrschaft den Anblick der ständig mit den verschiedensten Aufgaben hin- und herlaufenden Dienstboten zu ersparen. Wie mag das Innere der Leute beschaffen gewesen sein, die mit der Vorstellung leben konnten, daß hinter den Wänden ihrer Wohn- und Schlafzimmer immer die Schatten der Dienerschaft vorbeihuschten. Wann Aileen in dieser Umgebung um ihren Verstand gekommen war, sofern sie jemals viel davon gehabt hatte, war nicht bekannt. In ihren winzigen Kammer lag und stand eine Unzahl von Puppen, sorgsam herausgeputzt und die meisten mit Kopfbedeckung. Vielleicht ist Aileen ein heimlich in den Gängen aufgewachsenes und vergessenes Kind des neunzehnten Jahrhunderts. Nicht auszuschließen ist andererseits, daß auch noch zu der Zeit, als die Selwyns reiche Lebeleute waren, die Dienstbotengänge bevölkert waren, Aileen wäre dann das Gespenst zu passend Selwyns Niedergang.

Im Haus des Majors Le Strange ist alles, wie es sein soll. Wir erfahren den vollen Namen der Haushälterin, Florence Barnes. Es gilt ein Arbeitsvertrag mit der zentralen Regelung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten gemeinsam mit dem Major, aber unter Wahrung absoluten Schweigens einnehme. War der Major selbst auch an das Schweigegelöbnis gebunden, durfte Florence anworten, falls der Major sie ansprach? Gegenüber der Außenwelt schweigen beide über die näheren Lebensumstände, man kann daher der Phantasie freien Lauf lassen oder darauf verzichten. Auch der Major ist ständig von Federvieh und Vögeln umgeben, Papageien sind nicht darunter, Schimpfattacken hat Florence Barnes nicht zu befürchten. Falls auch das große steinerne Herrenhaus mit Dienstbotengängen ausgestattet war, wurden sie nicht genutzt, soviel ist immerhin sicher.

Mererid Ifans ist ein schwarzer Schatten im bunten Treiben der Papageien, Aileen ein Gespenst, wie man es in einem englischen Landhaus jederzeit vermutet, für einen geringen Teil des ihr von Le Strange vermachten Riesenvermögens kauft Florence Barnes für sich und ihre Schwester Jemima einen Bungalow in ihrem Heimatort Beccles, und wenn sie nicht gestorben sind, so wohnen sie wohl noch heute darin.

Sonntag, 1. Dezember 2019

Wissen

Autor, Erzähler, Leser

Dämmert es Adroddwr, dem Erzähler, als er den Namen Giorgio Santini hört? Wo aber hat er den Namen überhaupt gehört oder auf andere Weise erfahren, nicht deutet darauf hin, daß der Artist und der Erzähler im Wartesaal des Konsulats ein Gespräch aufgenommen und sich gegenseitig vorgestellt hätten. Hat der Erzähler sich weiterführende Gedanken gemacht zu dem wirklich wunderbaren, formvollendeten weitkrempigen Strohhut, den Santini in der Hand dreht, hat Adroddwr später die englische Nationalgalerie mit dem ausdrücklichen Ziel aufgesucht, Santinis Strohhut mit dem zu vergleichen, den der von Pisanello gemalte San Giorgio auf dem Kopf trägt, weiß der Erzähler in dieser Angelegenheit so viel wie der Autor, oder ähnelt sein Wissen eher dem eingeschränkten Wissen des Lesers?

Beyle machte Mme Gherardi auf einen schweren alten Kahn aufmerksam, mit einem im oberen Drittel geknickten Hauptmast und faltigen gelbbraunen Segeln, der anscheinend vor kurzer Zeit angelegt hatte und von dem zwei Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen eine Bahre an Land trugen. Zwar hat erst Kafka den Jäger Gracchus Jahrzehnte später identifiziert, das schließt eine Begegnung incognito mit dem Jäger, der, wie wir nun wissen, schon seit Jahrhunderten auf seiner Barke unterwegs ist, nicht aus. Adroddwr kann zu der Erscheinung nichts beitragen, er ist in der Eingangserzählung Beyle der Schwindel.Gefühle nicht vertreten und fällt als Interpret aus. Der Autor ist nicht allwissend, weiß aber viel, so viel, wie er wissen will.

Gern überläßt der Autor dem Erzähler das Wort, zieht sich aber nicht ganz zurück. Der Erzähler verwaltet vorwiegend die realistischen Ebene, der Autor ist eher verantwortlich für das untergründige mythische Geflecht. Der Leser ist doppelt bevorteilt, zum einen stehen ihm, wenn er nur will, beide Ebenen gleichermaßen offen und zum anderen kann er sich immer wieder aufs neue in den Text vertiefen. Zwar ist es dem Autor unbenommen, sich seinerseits unter die Leser zu begeben, wie es heißt, meiden die Autoren aber in der Mehrzahl die eigenen abgeschlossenen Texte. Der Erzähler ist benachteiligt, nach seinem Auftritt ist es um ihn geschehen, er kann sich als fiktionale Figur nicht unter die Leser begeben, um sein Wissen zu erweitern. Wo aber Ungemach droht, stellt Rettendes sich ein, der Autor schickt den Erzähler ein zweites nach Italien mit dem ausdrücklichen Auftrag, die Erinnerungen an die sieben Jahre zurückliegenden Erinnerungen genauer zu überprüfen und tiefer einzudringen in das damals Geschehene. Da der Erzähler sich aber nicht auf die Überprüfung des Vergangenen beschränkt, sondern auch ungeprüft von der zweiten Reise erzählt, scheint sich eine dritte Reise anzubahnen &c, tendenziell eine Reise ins Unendliche. Der Erzähler zieht aber einen Schlußstrich und quartiert sich in einem Hotel oberhalb von Bruneck ein, um dort, ohne weiter davon zu erzählen, den Winter abzuwarten.

Die walisische Haushälterin

Herzlos

Die Papageien verfolgten die walisische Haushälterin, die nur selten draußen sich sehen ließ, mit regelrechtem Haß (jeder Hundebesitzer kennt nur allzu gut die auf beklemmende Weise in der Tierwelt verbreitete rassistische Haltung), ja sie schienen genau zu wissen, zu welchen Zeiten sie, stets mit einem schwarzen Hut auf dem Kopf und dem schwarzen Regendach in der Hand, in das Bethaus ging und lauerten ihr bei diesen regelmäßig wiederkehrenden Gelegenheiten jedesmal auf, um auf das unflätigste hinter ihr herzuschreien. Wir schauen dem Geschehen hinterdrein und freuen uns an dem farblich schönen, suggestiven Bild, im Vordergrund die so lebhaften wie bunten Papageien, im Hintergrund verschwindet langsam die im Dunst nun schon kaum noch erkennbare graue Gestalt der Waliserin, die Vögel für sie unsichtbar im Rücken. Von einem körperlichen Angriff der Vögel wie im Hitchcockfilm ist nicht die Rede, den verbalen Unrat verschütten die sprachbegabten Tiere mit hoher Wahrscheinlichkeit im angelsächsischen Idiom, das die walisische Cynorthwy-ydd cartref nicht versteht. Weder körperlicher noch seelischer Schaden ist zu vermelden, das mildert zu einem gewissen Grade den Eindruck eines, was die Haushälterin anbelangt, bei unbefangener Betrachtung recht herzlos und empathiefrei erscheinenden Berichts.