Dienstag, 17. Oktober 2023

Nur ein Buch

 Kein Buch

 

In Thomas Bernhards Erzählungen finden sich wiederholt Menschen, die immer nur ein und dasselbe Buch lesen und kein anderes. Angesichts des inzwischen überbordenden Angebots immer neuer Bücher mag man sich durchaus auf ein einzelnes Buch zurückziehen wie in eine erholsame Unterkunft. Nur ein Buch ist griffbereit, die Lesefreude mag aber besonders tiefgründig sein. Das alles betrifft nur die Neuzeit, in der das Buch überhaupt erst das Licht der Welt erblickte. Der Buchdruck wurde im 15. Jahrhundert erfunden, bis dahin war die große Mehrheit kaum lesefähig oder auch nur am Lesen interessiert. Zur ungefähr gleichen Zeit hatte Luther seine Bibelübersetzung abgeschlossen, für lange Zeit ein dominanter Lesestoff. Indigene Völker tauchten für die Europäer erst im fünfzehnten Jahrhundert auf, Bücher kannten sie nicht. Joseph M. Marshal, ein englisch schreibender Lakota unserer Tage, läßt in einem im neunzehnten Jahrhundert spielenden Roman den Senat seines Volkes sorgfältig die Frage diskutieren, ob es sich bei den eingewanderten Europäern eventuell um Menschen handeln könne. Eher nicht, ist das nicht besonders überraschende Urteil, Lesen und Schreiben schafft nicht in jedem Fall bessere Menschen. Was Bernhards Leute anbelangt, muß man nicht unbedingt davon ausgehen, daß das eine Buch für sie immer das erste und endgültig letzte ist, ein Wechsel dann und wann in größeren Abständen ist nicht ausgeschlossen. Der Dichter, um uns ihm zuzuwenden, von Berufs wegen ein Buchleser, meint bei seinen Italienreisen offenbar ohne Buch auszukommen. Er ist professionell ans Buch gebunden, ein Anlaß, auf Erholungsreisen nicht immer ein Buch bei sich zu tragen. In bestimmten Situationen aber mag das ein Fehler sein. Als er in Wien und Venedig keinen Menschen trifft, mit dem er sprechen konnte, hätte ein Buch vielleicht aushelfen können. Auch bei seiner zweiten Italienreise liest er kein Buch, beginnt aber, darüber hinausgehend, ein Buch zu schreiben mit dem Titel All‘ estero. Das Buch stellt die erste Reise da und zugleich auch schon die zweite, noch nicht abgeschlossene, aber laufend verfolgte und  kommentierte. Überarbeitet und abgeschlossen wurde das Buch dann vermutlich während des Aufenthalts in einem Hotel oberhalb von Bruneck am Ende der Vegetation. Danach entwirft der Reisende während des Aufenthalts in der Ortschaft W. ein weiteres Buch, diesmal mit dem Titel Il ritorni in patria, uns ebenfalls nicht unbekannt. 

Dienstag, 3. Oktober 2023

Compères

Beginn einer wundersamen Freundschaft

 

Er legt seinen Posten als Meßdiener nieder und äußert sich weiter kaum zu Fragen der Religiosität, da ist Nietzsche, der ihn wohl wenig begeisterte, bei weitem offener in seinen Verkündigungen, seinem Umgang mit Gott. Einerseits verkündigt er den Tod Gottes, andererseits ist es ein Handel unter Gleichen, wenn nicht gar unter Freunden, besser gesagt unter guten Feinden. Er will die fruchtbare Konkurrenz mit den Evangelien aufrecht erhalten, ihren Stil übernehmen, die Verbindungen zur Ewigkeit sollen nicht unterbrochen werden, Respekt in einer eigenwilligen Form der Respektlosigkeit. Das mag auch den Dichter beflügeln.

Montag, 2. Oktober 2023

Prophet

Menschenmassen

Offenkundig sind ihm Menschenansammlungen nicht willkommen. Als er in Wien und Venedig gar niemanden findet, mit dem er sprechen könnte, ist ihm das verständlicherweise aber auch nicht recht. Im Verlauf seiner zweiten Reise, sieben Jahre später, tritt dieses Phänomen nicht auf, statt dessen wundert er sich über das stark angewachsene Ferienvolk, dem er sich auf keinen Fall annähern will. Man trifft dieses von ihm so betitelte Volk im oder am Bahnhof ruhend, ein wahres Heer zumeist jugendlicher Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. Man trifft andere Müßiggänger am Abend in Limone, das ganze Ferienvolk ist paar- und familienweise unterwegs, eine einzige buntfarbige Menschenmasse schiebt sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des Ortes. Später trifft er dann auf durchaus erträgliche Menschen und Gesprächsanlässe in erträglicher Zahl, man unterhält sich und tauscht Worte und Gedanken aus. Optimistischen Erwartungen für die Menschheit hat er weiterhin keine, er ist ersichtlich kein entschiedener Freund des Homo sapiens. Die Menschenscharen möchte er möglichst gering und am besten unsichtbar halten, vielleicht, weil er die Menschheit auf falschem Wege sieht, daß der Mensch der Liebling Gottes sei, will ihm nicht einleuchten. Verbreitet will der Mensch im Zuge der Aufklärung das irdische Geschehen in die eigene Hand nehmen, das Ruder selbständig steuern, von Descartes bis hin zu Marx bewegt und behauptet sich diese Einstellung. Die Gegenseite wiederum erwartet den baldiges Untergang des Menschheit, man kann unter anderem Jean Rostand oder Cioran, wenn nicht als Vollstrecker, so doch als Zubringer nennen. Wiederum andere setzen auf das alte Rom und auf Panem et circenses als die geeignete Medizin für die zunehmend von Arbeit befreite und entsprechend gelangweilte Menschheit. Gewaltig ist das Ferienvolk in den letzten Jahrzehnten angeschwollen, seine Heere sind inzwischen nicht mehr überschaubar, ansässige Küsten- und Inselbewohner bekommen die vom Ferienvolk okkupierte See, die doch ihre See ist, allenfalls in der touristenarmen Winterzeit noch zu Gesicht.