Mittwoch, 20. Mai 2020

Wahrheitssuche

Im Spiegel


Wenn J.M. Rymkiewicz ein Buch über Auschwitz schreiben sollte - er hat ein Buch über das Warschauer Ghetto (Titel des polnischen Originals: Umschlagplatz) und ein anderes über den Warschauer Aufstand (Titel des polnischen Originals: Kinderszenen) geschrieben, nicht aber über Auschwitz, und er würde und wird auch kein Buch über Ausschwitz schreiben, da Ausschwitz keine polnische Angelegenheit ist, und nur polnische Angelegenheiten interessieren ihn -, wenn er also ein Buch über Auschwitz schreiben sollte, müßte man damit rechnen, daß er zehn Seiten oder auch zwanzig Seiten für die Frage bereitstellt, ob die Türen des Lagers überwiegend nach innen oder überwiegend nach außen öffneten, und er würde nicht weniger als zehn Quellen auftun, die einander in diesem Punkt widersprechen. Die Sache mit den Türen ist naturgemäß willkürlich und an den Haaren herbeigezogen, richtig ist, daß Rymkiewicz gern mit äußerster Ausführlichkeit bei den leblosen unbeweglichen Dingen verharrt, beim Umschlagplatz etwa bei der Frage, welche und wie viele Gebäude auf dem Platz standen, wie sie zusammenhingen und welchem Zweck sie dienten. Die Zahl der von ihm aufgetanen, in dieser Frage sich widersprechenden Quellen ist beeindruckend. Für das Ghetto kann Rymkiewicz ähnlich genaue Skizzen und Pläne nutzen, wie sie Austerlitz für das Ghetto Theresienstadt zur Verfügung stehen, für den Umschlagplatz muß er sich mit den erstaunlich fragmentarischen und uneinheitlichen verbalen Beschreibungen begnügen. Man hat den Eindruck, die Hartnäckigkeit seiner Recherche speist sich nicht aus der Hoffnung auf Erfolg, sondern aus der Sicherheit zu scheitern, aus der Erkenntnis, daß die klare und eindeutige Gestalt des Platzes, obwohl sie unzweifelhaft bestanden hat, im Dunklen bleibt. Die Hartnäckigkeit bei der Verfolgung unerreichbarer Ziele ist Rymkiewiczs stilistisches Markenzeichen. Wenn aber schon die toten, starren Dinge nicht zu ergründen sind, wie dann das lebendige tödliche Geschehen?

Hilary, Austerlitz‘ Geschichtslehrer in Croesoswallt, ist spezialisiert auf Napoleon und seine Zeit und ganz besonders auf die Voraussetzungen und den Ablauf der Schlacht bei Austerlitz. Das ganze Terrain der Kampfhandlungen hat er vor Augen, die Chaussee von Brünn nach Olmütz, die Pratzener Anhöhen, die Dörfer Bellwitz, Skolnitz und Kobelnitz, das Feldlager der Franzosen und das der neunzigtausend Alliierten. Stunden konnte Hilary über den 2. Dezember 1805 referieren, letztlich aber mußte er einräumen, daß alles auf den knappen Satz: Die Schlacht wogte hin und her hinauslief. Dem Inneren unserer Köpfe sind vorgefertigte Bilder eingraviert, während die Wahrheit in einem unentdeckten Abseits liegt. Demnach würde Rymkiewiczs Vorgehen darin bestehen, daß er die eingravierten Bilder penibel verifiziert, ohne aber der sogenannten historischen Wahrheit näher zu kommen. Zum Lager Theresienstadt betreibt Austerlitz viele Jahre später kein eigenes Quellenstudium, sondern greift auf die Vorarbeiten H.G. Adlers zurück. Sechzigtausend Personen auf einer Fläche von kaum mehr als einem Quadratkilometer zusam- mengezwungen, Bankdirektoren und Landwirte, Sängerinnen und Hausfrauen, Menschen aus allen Ländern, zwei Mann vor eine Deichsel gespannt, vier bis acht schiebend und in die Speichen greifend, Scharlach, Diphterie und Tuberkulose, Leib und Seele schon bald verwüstet. Besonders einprägsam dann der Besuch einer Rotkreuzkommission bestehend aus zwei Dänen und einem Schweizer, die Gutachter sind angemeldet, und nichts ist wiederzuerkennen. Jetzt sieht man Rasenflächen und Spazierpfade, gut ausgestattete Ladengeschäfte, eine Leihbibliothek und eine Turnhalle, saubere Gehsteige, gutes Essen, Sportveranstaltungen, Kabarett und Theater, was das Herz nur begehrt, gespiegelt im Zerrbild der Lüge wird die Wahrheit noch am ehesten erkenntlich.

Dienstag, 19. Mai 2020

Hethiter

Wahlspruch

Ninda an ettsa tteni, water ma eku tteni: das ist der erste aus der hethitischen Hieroglyphenschrift entzifferte und übersetzte Satz, der zum Erstaunen der meisten Altertumsforscher umgehend und einwandfrei die Zugehörigkeit des Hethitischen zur indogermanischen Sprachfamilie belegte. Iß Brot, trink Wasser, die Verwandtschaft ist unverkennbar. Es klingt wie ein Ruf zur Mäßigung und Enthaltung aus einer viertausendjährigen Tiefe der Zeit. Manche Figur aus Sebalds Prosa hätte den hethitischen Satz als Wahlspruch wählen können. Hätte wählen können oder hat gewählt, die Übersetzung und Veröffentlichung des Satzes fiel in ihre Lebenszeit.

Dienstag, 12. Mai 2020

Nahe den Engeln

Stillstand

Wenn der Mensch, von den Engeln kaum zu unterscheiden, ychydig is na'r angylion, wenn er also obendrein das Ebenbild Gottes ist, dann muß Gott im Gegenzug dem Menschen ähnlich sein und damit nicht ohne Mitverantwortung und Schuld an dessen Miseren. Der Mensch seinerseits erbarmt sich bald schon Gottes, entlastet ihn durch die Unterstützung der Vernunft, seit Beginn der Aufklärung zunächst der gemeinsame Spielplatz von Gott und Mensch. Wenn Gott höher ist als alle Vernunft, will der Mensch zumindest nicht beliebig weit unterhalb der Vernunft operieren, man macht sich zu zweit an die Behebung der Mängel. Die Ungeduldigen aber sehen Gott schon bald als Bremser und belastenden Störenfried bei der Umgestaltung des Menschen zum Vernunftwesen. Bei der Umgestaltung durch den Menschen allein taten sich allerdings Schwierigkeiten auf, die Artefakte der Menschen waren bald schon gezeichnet von einer bis in die letzte Einzelheit alles durchwaltenden Vernunft, der Mensch selbst scheint sich der Vernunft immer wieder zu verschließen. Das galt nicht für die Sowjetunion. In den Romanen Vera Panowas erleben wir, wie die jungen Leute beherzt ans Werk gehen. Sie unterziehen sich mit freudigem Ernst einer peniblen Selbstanalyse, um gegebenenfalls auszumerzende Reste des Burschui an sich zu entdecken und so den vernunftgeleiteten Sowjetmenschen her- und darzustellen. So wird unter anderem die Frage diskutiert, ob Kinder ihre Eltern kennen sollen. Bei angestrebter Herkunft aus sogenannter freier Liebe ist die verläßliche Zuordnung zu einem Vater ohnehin schwierig, und darüber hinaus ist es nur vernünftig, wenn das Kollektiv unterschiedslos gleicher und freier Erwachsener durch ein unterschiedsloses Kinderkollektiv ergänzt wird zu einer umfassenden säkularen Engelsschar. Man geht sorgfältig vor und trifft am ersten Diskussionsabend noch keine endgültige Entscheidung. Die Älteren, Unbelehrbaren sind in Quarantäne versetzt und werden bis zum Ende ihres Lebens auf freundliche Art nicht mehr ernstgenommen. Das betraf naturgemäß nicht alle Älteren, Lenin selbst war nicht mehr der Jüngste, seinem Tod ist im Semimentalnyj roman ein eigenes Kapitel gewidmet. Vera Panowa hat sich die Schwärmerei der jungen Leute nicht ohne Einschränkungen zu eigen gemacht, die Neugestaltung der Menschheit wird bald schon ergänzt durch eine unglücklich endende Liebesgeschichte, so wie es immer war.
Mathild Seelos erfährt die Welt zunächst unter der Leitung Gottes, der höher ist als alle Vernunft, und dann geleitet von der Vernunft des Menschen, der Gott beiseite geschoben hat. Sie war in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hatte das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten. Wir erfahren nicht, wie der Ruf Gottes an sie ergangen und wieder verklungen ist, noch wird uns das Faszinosum der Räterepublik entziffert, wir hören nur, daß sie sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand aus München nach Haus zurückgekehrt ist. Über das spätere Geistesleben während ihres lang andauernden Aufenthalts in der Welt wird vollends geschwiegen. Einen gewissen Hinweis gibt immerhin ihre hinterlassene Bibliothek, die einerseits zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abbildungen der uns alle erwartenden Pein aufwies und zum anderen Traktate von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner und anderen. Wann hat sie die Bücher gelesen, Gebetsbücher als Englisches Fräulein in Regensburg, und den Bakunin dann in München? Hat sie die Bücher auch später noch gelesen, die Gebetsbücher sowohl wie die Traktate oder nur die Gebetsbücher oder aber die Traktate oder vielleicht nur die die literarische Werke und die Reiseberichte, die ebenfalls in ihrem Regal standen. Hat sie alles immer wieder gelesen oder gar nichts? Was immer sie gelesen oder nicht gelesen haben mag, nichts weist daraufhin, daß sich irgendwann neue Begeisterung für das vermeintlich gottbehütete oder für das vermeintlich menschengemachte Projekt, auch Projekt Moderne genannt, eingestellt hätte. Sieht es an anderen Stellen des Prosawerks anders aus? Weder Protagonisten noch Komparsen lassen sich für das fromme oder das weltliche Projekt ausmachen, die Katecheten Mayr und Maier taugen nicht als Gegenbeweis und der Prediger Emyr Elias steht auf verlorenem Posten, junge Leute, deren Enthusiasmus für das säkulare Projekt unerläßlich ist, fehlen ganz. Man hat die Hände in den Schoß gelegt und schaut ratlos der verborgen im Netzwerk ihrer Artefakte wuchernden Menschheit zu.

Sonntag, 10. Mai 2020

Kinderszenen

Deutsche Hilfe

Kaum ein Kind liebt oder haßt die Mutter und den Vater gleichermaßen, für Edward FitzGerald erwuchs daraus kein Problem, hatte doch die dem Herzog von Wellington verblüffend ähnlich sehende Mutter, Mary Frances FitzGerald, den Vater gleichsam inkorporiert, John Purcell war nach der Erfüllung seiner Fortpflanzungsverpflichtungen zu einer bedeutungslosen, wenn nicht gar verächtlichen Gestalt, einer leeren Menschenhülse herabgesunken, aus dem Insektenreich sind ähnliche Verläufe bekannt. Zuständig für die Erziehung Edwards und seiner Geschwister waren die Gouvernante und der Hauslehrer, Mary Frances FitzGerald hielt sich überwiegend in ihrer Londoner Residenz auf, gelegentlich nur kam sie nach Bredfield gefahren, um nach den Kindern zu sehen, die versteinert durch die Fenster der Kinderstuben die von vier Rappen gezogene Kutsche anrollen sahen. Wie eine fremde Riesin ging die Mutter eine gewisse Zeit hin und her, bemerkte dies und jenes und war wieder verschwunden. Später, in den Jahren nach der Befreiung aus dem Kinderverlies, hat Edward das Herrenhaus nicht mehr betreten und ein winziges Cottage am Rande des Parks bezogen, so wie auch Bernhards Arzt schon zu der Zeit, als er noch watten ging, längst nicht mehr in dem schloßähnlichen Gebäude wohnte, in dem er aufgewachsen war, sondern in einer Baracke auf dem Schloßgelände. Ein anderer Geistesverwandter, der Major Le Strange, ist, so man zurückblättert in den Ringen des Saturn, nur gut hundert Seiten entfernt. Wenn FitzGerald von weißen Tauben umflattert wird, so ist es bei Le Strange Federvieh jeglicher Art, Perlhühner, Fasanen Tauben und Wachteln und die verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Wenn FitzGerald sich an Deck seines Schiffes in einem alten Überrock und einem auf dem Kopf festgebundenen Zylinder zeigt, wird Le Strange in seinem Garten in einem kanarienfarbenen Gehrock gesichtet. Über Le Stranges Eßgewohnheiten ist nichts genaueres bekannt, aber es würde niemanden überraschen, wenn auch er sich in der vegetarischen bis veganen Richtung orientiert hätte. Le Strange gilt als fiktionale Gestalt, und es sollte nicht verwundern, wenn der Dichter einige Merkmale FitzGeralds auf ihn übertragen hätte. Für Le Strange arrangiert er einen abrupten Wechsel vom Gutsverwalter zum Eremiten, während wir bei FitzGerald den langen Weg zum immer Absonderlichen verfolgen.
Kinderstuben, Kinderverliese. Kinderszenen ist der Titel eines Zyklus von Klavierstücken Robert Schuhmanns, J.M. Rymkiewicz hat, Schuhmann im Ohr, das deutsche Wort zum Titel seines von Warschauer Aufstand handelnden polnischen Buches gemacht. Rymkiewicz, 1935 in Warschau geboren, war von den Kämpfe im Zentrum der Stadt nicht unmittelbar betroffen, traumatische Erlebnisse sind ihm nicht erspart geblieben. Er hatte keinen Anlaß, die Eltern verantwortlich zu machen für seine nicht in den erhofften Bahnen verlaufene Kindheit, schuldig sind, so seine Worte, allein die Deutschen, Niemcy zniszczyli moje dzieciństwo i zrujnowali moja ośmioletnią wyobraźnię, die Deutschen haben meine Kindheit zerstört und die Erwartungen eines achtjährigen Kindes ruiniert. Und doch hat er bei einer Gelegenheit die Deutschen als Verbündete erhofft. Als seine drei Jahre ältere Schwester bereits über Schlittschuhe verfügt und auf dem Eis laufen darf, er dagegen nicht, versetzt ihn das in einen Zustand von Verzweiflung und Wut, dusił się z zozpaczy i z wscięklości, und er hofft und wünscht, daß die Eltern und die Schwester sowie überhaupt alle Schlittschuhläufer einem Massaker der Deutschen zum Opfer fallen und er auf dem vom Blut roten Eis verwegene und einsame Pirouetten fährt, aber bei aller Drastik des Rachegelüsts, all das zählt nur zu den flüchtigen Alltagskümmernissen der Kindheit. Im Fall FitzGeralds ist die Situation ungleich ernster, man wird die Eltern und vor allem Mutter verantwortlich machen, verantwortlich aber letzten Endes wofür, FitzGeralds Leben nimmt einen seltsamen und im banalen Sinn wohl nicht glücklichen, wohl aber beeindruckenden Verlauf. Über die Kindheit des Major Le Strange ist nichts bekannt, auch der Grund für die jähe Änderung seiner Lebensweise ist nicht offenkundig, man vermutet den Grund aber im traumatischen Erleben der Befreiung Bergen Belsens von den Deutschen. Was gab es noch zu befreien? Keinesfalls aber will man, was den Major anbelangt, von einem gescheiterten Leben sprechen.

Dienstag, 5. Mai 2020

Weisen des Verschwindens

Mit Hilfe der Nacht

Gleich ob man über Neufundland fliegt oder über das von Boston bis Philadelphia reichende Lichtergewirr, über das Ruhrgebiet oder den Frankfurter Raum, es ist immer, als gäbe es keine Menschen, als gäbe es nur das, was sie geschaffen haben und worin sie sich verbergen. Man sieht die Behausungen und Produktionsstätten, man sieht die Fahrzeuge, in denen sie sitzen, aber die Menschen sieht man nicht. Und doch sind sie überall anwesend, breiten sich stündlich weiter aus und sind eingespannt in Netzwerke von einer das Vorstellungsvermögen bei weitem übersteigenden Kompliziertheit. - Soweit die Erkenntnis aus der Höhe, bei Tag und bei Nacht, die Menschheit ist verschwunden und zugleich in einer beängstigend überwältigenden Weise anwesend.

Die erste Luftfahrt des Erzählers, die von Zürich nach Manchester, hatte noch keine tiefgreifenden Erkenntnisse dieser Art zum Zustand der Menschheit erbracht, eher schon die bodennahen Erkundungen am Zielort. Keine Netzwerke von einer das Vorstellungsvermögen bei weitem übersteigenden Kompliziertheit in dieser Stadt des Niedergangs, sondern überall Zeichen des Unbewohntseins, in ganzen Straßenzügen sind die Fenster und Türen vernagelt, und in ganzen Vierteln ist alles niedergerissen, so daß man weit über das derart entstandene Brachland hinwegschauen kann. Aus riesigen viktorianischen Büro- und Lagerhäusern zusammengesetzt und nach wie vor ungeheuer gewaltig wirkend, ist die Wunderstadt des letzten Jahrhunderts beinahe restlos ausgehöhlt. Im Inneren der Stadt ist, obschon bereits der Morgen graut, niemand zu sehen. Wenn die Nacht sich dann wieder herabsenkt, beginnen an verschiedenen Stellen Feuerchen zu flackern, um die als unstete Schattenfiguren Kinder herumstehen und -springen, ein Endzeitszenario, wie es in Filmen gern vorgeführt wird. Austerlitz spezialisiert sich in London ebenfalls auf Nachtwanderungen, er durcheilt sowohl den Stadtkern als auch die Außenbezirke, immer fort und fort, auf der Mile End und Bow Road über Stradford bis nach Chigwell und Romford hinaus, quer durch Bethnal Green und Canonbury, durch Holloway und Kentish Town, bis auf die Heide von Hampstead, südwärts über den Fluß nach Peckham und Dulwich oder nach Westen bis Richmond Park. Tatsächlich kann man in einer einzigen Nacht von einem Ende der riesigen Stadt ans andere gelangen und dabei nur einzelnen Nachtgespenstern begegnen. Die überwältigende Mehrzahl der Londoner liegt, wie Austerlitz im Einklang und mit den Worten Kafkas berichtet, in ihren Betten, zugedeckt und, wie sie glauben, unter sicherem Dach, in Wahrheit aber nur niedergestreckt, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, in jedem Fall aber unseren Blicken entzogen.

Die Höhe des Fliegens und das Dunkel der Nacht bemänteln beschwichtigend die sich weltweit immer beängstigender ausbreitenden Netzwerke der Menschen. Manchester erscheint als nahezu tote Stadt, London wie eine nur zombihaft lebendige Stadt. In gewissem Sinne überaus lebendig ist dagegen das Ferienvolk, es quillt hervor, in Italien ebenso wie in Österreich und sonstwo, füllt die engen Gassen der zwischen See und die Felswand eingezwängten Orte, lagert bei Tag und bei Nacht in Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden der Bahnhöfe und Bahnhofsvorplätze. Unter der Herrschaft des Virus allerdings sind in diesen Tagen kaum Flugzeuge in der Luft, die Lagebeurteilung von oben ist unterbrochen. Durch die Gnade Gottes, so mag, so muß man es sehen, ist der Tourismus so gut wie zum Erliegen gekommen, die Menschen sitzen in ihren steinernen Burgen, die Beschäftigung allein mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit fällt ihnen schwer.

Freitag, 1. Mai 2020

Vorfall im Holzschopf

Wellenförmige Bewegung

Ein Schemen hinter der offenen Tür des Holzschopfs, jemand, der dort in der Haltung eines gegen den Wind gehenden Menschen im Dunkeln stand und dessen ganzer Körper eine seltsame, fortwährend sich wiederholende wellenförmige Bewegung durchlief, vor ihm auf der Torfwasenbeige ausgebreitet, die Augen verdreht, die Romana. Diese Beobachtung des Erzählers, noch im Kindesalter, Adroddwr Bachgen, löst eine Reihe unansehbarer Folgen aus, Folgen teils realer und teils nur erdachter Art. Später in derselben Nacht zerstörte der einbeinige Engelwirt Sallaba, Romanas Arbeitgeber, die gesamte Einrichtung der Gaststube. Ein Zusammenhang mit dem Geschehen im Holzschopf und dem in der Gaststube wird nicht bestätigt geschweige denn aufgeklärt, ein jeder aber nimmt einen solchen Zusammenhang an und glaubt auch zu wissen, worin er besteht. Hatte außer Bachgen unbemerkt noch jemand anderes den Vorfall im Holzschopf beobachtet? Bereits zuvor, immer wenn er mit der Romana ins Eishaus hineingegangen war, hatte Bachgen sich vorgestellt, daß sie beide versehentlich dort eingeschlossen und einander mit den Armen umfangen und daselbst ihr Leben lassen würden. Als hätte er geahnt was kommt, niemand, auch nicht der Jäger Schlag, hätte ihm die Romana nach dem glücklichen Tod mehr nehmen können. In der Schule hatte das Fräulein Rauch die Unglückschronik von W. an die Tafel geschrieben, 1511 sie Pest, 1530 Feuersbrunst &c. Großbrand, Feuersbrunst, Pest, Hungerjahre, Kriegstote, Großfeuer, Kriegstote. Stand die Unglückschronik auf dem Lehrplan, oder war es eine Initiative der jungen Lehrerin, die Bachgen nicht weniger bedeutete als die Romana, inzwischen, nach dem Vorfall im Holzschopf, vielleicht sogar mehr. Warum wurde gerade jetzt die Unglückschronik an die Tafel geschrieben. Schon immer hatte sich Bachgen vor nichts mehr gefürchtet, als wenn ihm der Friseur Köpf mit dem an einem Lederriemen frisch abgezogenen Messer den Nacken ausrasierte, jetzt aber, überlagert vom Erinnerungsbild des Holzschopfs, war ihm geradezu, als trüge Salome ein abgeschnittenes Haupt auf einer silbernen Platte herein und es war sein Haupt. Dann wieder, am Fenster sitzend, sah er, wie der Schnee unaufhörlich aus der Höhe herabkam und bis zum Dunkelwerden alles bedeckte, die Holzbeigen, den Hackstock, das Dach des Schopfs, den Brunnentrog und den Krautgarten in der Nachbarschaft. Ein Erlebnis ähnlich dem Eishaus, aber einsam dieses Mal.
Nun hatte man den Helden im Holzschopf und Jäger Schlag eine gute Stunde außerhalb seines Reviers auf der Tiroler Seite mit gebrochenem Auge auf dem Grund eines Tobels liegen gefunden. Während die Leserschaft geschlossen den Tod durch Fremdeinwirkung, also ein Verbrechen vermutet, kommt dieser Verdacht in W. nicht auf oder wird unterdrückt, die zuständigen Ermittlungsbehörden schalten sich nicht ein, die immerhin vorgenommene Autopsie ergibt keine weiteren Erkenntnisse. Bachgen war am Mittag auf dem Heimweg von der Schule einem Holzschlitten begegnet, auf dem unter einer weinroten Roßdecke ein Mensch lag. Wenige Tage nur nach der Begegnung mit dem toten Jäger Schlag wurde Bachgen von einer schweren Krankheit befallen, die Diagnose war Diphterie. Die lange Reihe unguter, teils erdachter und teils realer Vorfälle hatte wohl das Immunsystem geschwächt. Im Fieberwahn treten entsetzliche, über alle Vorstellung hinausgehende Trugbilder auf, Bachgen greift in einen Topf, und auf dem Grund des Gefäßes liegen nicht wie erwartet Eier, sondern weiche, den Fingern entgleitende Substanzen, bei denen es sich um nichts anderes als um ausgeschälte Augäpfel handelte. Dank der aufopfernden Pflege des Großvaters aber schreitet die Genesung voran und schon ist Bachgen, als wüchse er mit großer Geschwindigkeit und als sei es darum durchaus möglich, da er im Sommer bereits mit seiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können. Die Romana kam für eine Trauung nicht mehr in Betracht, und wie man sich denken kann, kommt auch die Heirat mit dem Fräulein Rauch nicht zustande. Gleichwohl ist es in Anbetracht der realen Möglichkeiten ein versöhnlicher Abschluß und eine angenehme Erinnerung, mit der der Erzähler den Aufenthalt in W. beendet.