Mittwoch, 25. Mai 2022

Endspiele

Fremd in der Welt

Le Strange lernen wir kennen als britischen Major während des zweiten Weltkriegs und vornehmlich bei der Befreiung von Bergen Belsen im April 1945. Sein Lebensverlauf vor Kriegsbeginn, seine Kindheit und Jugend bleiben uns verborgen. Unmittelbar nach Kriegsende beantragt er die Entlassung aus dem Wehrdienst und übernimmt bis Mitte der fünfziger Jahre die Verwaltung der Güter seines Großonkels, dann kommt es zu seinem radikalen Rückzug von der Menschheit. Sein Kontakt mit der Gattung Homo sapiens beschränkt sich in der Folge allein auf die als Haushälterin  eingestellte Florence Barnes. Wie es zu diesem Rückzug aus der Menschenwelt kam, ist ungewiß. Naturgemäß denkt man an das schlimme Erlebnis in Bergen Belsen, aber warum dann erst zehn Jahre später. Bergen Belsen ist wohl ein Beitrag zum Rückzug, aber nicht unbedingt der Grund. Mögliche Prägungen schon aus jungen Jahren sind nicht bekannt. Wenn man liest, Le Strange habe in seinem Garten einmal ein Höhle ausgehoben, in der er dann tage- und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste, wird man unsicher, ob bei ihm im Kopf noch alles stimmt. Le Strange ist offenbar nicht bereit, sich näher zu erklären, vielleicht ist er dazu auch nicht imstande. Frederick Farrar hat auf Wunsch seines Vaters die Rechtswissenschaften studiert, um dann, wie in Großbritannien üblich, bis ins fortgeschrittene Alter als Richter im Amt zu bleiben. Inzwischen schaut er mit einem gewissen Entsetzen auf mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zurück. Löste die berufliche Richtung oder die ungewöhnliche Länge der Berufsausübung das Entsetzen aus, wär es ausgeblieben, wenn er etwa das Lehramt studiert und ausgeübt hätte, oder beeinträchtigt jedwede Berufsausübung das eigentliche menschliche Leben? Jedenfalls widmet sich Farrar im Ruhestand ganz der Zucht seltener Rosen und Veilchen. Er ist offenbar alleinstehend aber, anders als Le Strange, durchaus gesprächsbereit und offen für Besucher. In Fall des Николай Степанич Степанович ist die Situation ganz anders. Er war und ist eine weltweit anerkannte Koryphäe der Medizinwissenschaft und liebt weiterhin sowohl die Forschung als auch die Vorlesungen, auch wenn der Zenit in beiden Betätigungsfeldern inzwischen überschritten ist. Was die glückliche Phase seines Lebens anbefrifft, war er zudem ein freudiger Ehemann und Familienmensch, damit ist es längst vorbei. Seine Adoptivtochter Katja, der einzige Mensch, mit dem er sich noch versteht, rät ihm zu einer kompletten Trennung von der Familie, aber auch dafür ist es zu spät, nach eigener Diagnose hat der Mediziner Николай Степанич nur noch einige Monate zu leben. Er hält sich auf die Bitte seiner Frau in Familienangelegenheiten in Charkow auf. Wann und ob er zurückkehrt, lebendig oder tot, ist ungewiß. Eine zweite Lebensphase in einsamer Zurückgezogenheit wie im Fall des Majors und des Richters ist ihm nicht vergönnt.