Dienstag, 20. Mai 2014

Mysterien

Flammendes Herz
Als er zum Himmelsfahrtstag, so der Dichter, auf die Welt kam, zog gerade die Flurumgangsprozession unter den Klängen der Feuerwehrkapelle am Haus vorbei. Über den Bergen aber stand schon das Unwetter, das bald darauf die Bittgänger zersprengte und einen der vier Baldachinträger erschlug. Mitgefühl für den unglücklichen Baldachinträger ist nicht zu spüren, dem Dichter scheint das blutige Scheitern der frommen Veranstaltung nur recht zu sein. Dann der Rückblick auf die Zeit vor der Geburt: Aus der Münchner Zeit nach 1933 ist kaum etwas anderes erinnerlich als die Prozessionen, Umzüge und Paraden, zu denen es offenbar immer einen Anlaß gegeben hat. Entweder es war Maifeiertag oder Fronleichnam, Fasching oder der zehnte Jahrestag des Putschs, Reichsbauerntag oder die Einweihung des Hauses der Kunst. Entweder trug man das Allerheiligste Herz Jesu durch die Straßen der inneren Stadt oder die sogenannte Blutfahne. Das Allerheiligste Herz Jesu und die Blutfahne vereint in einem Satz, das ist allem Anschein nach der ultimative Bannfluch über den Katholizismus. Da ist der Schabernack, den Bereyter mit dem Benefiziaten Meyer treibt, eher noch von harmloser Art. Ein neben der Tür angebrachtes, das flammende Herz Jesu darstellendes Weihwasserbehältnis wurde von Bereyter rechtzeitig vor jeder Religionsstunde mit der sonst zum Gießen der Geranienstöcke verwendeten Gießkanne aufgefüllt, nie ist es darum dem Benefiziaten gelungen, die Weihwasserflasche zum Einsatz zu bringen. Gleichzeitig aber hießt es von Bereyter, dem Quälgeist des Benefiziaten, er sei gottgläubig. Das besondere Gefallen des Dichters findet auch der evangelische Theologe Johann Peter Hebel, in dessen auf das sorgfältigste austarierten Weltordnung auch die kuriosesten Kreaturen wie zum Beispiel die mit keinerlei geistlichen Prätentionen ausgestatteten Prozessionsspinner ihren rechten Platz finden.
Man könnte mutmaßen, daß der Verwerfung katholischer Salbaderei, wie Bereyter es ausdrückt, eine gewisse Aufwertung protestantischer Lebenshaltung gegenübersteht, aber diese Spur führt nicht allzu weit. Der, wie Sebald ihn sieht, katholische Strafprediger Thomas Bernhard schneidet nicht schlechter ab als sein kalvinistischer Amtsbruder Emyr Elias. Die eigentliche Frage ist, welche säkulare Verheißung an die Stelle der verlorenen geistlichen treten kann. Sebald wird gepriesen für die Verurteilung der deutschen Nazivergangenheit, obwohl das nun wirklich keine Kunst ist, wer tut das nicht; aber auch getadelt, weil er den demokratischer Fortschritt in Deutschland nicht angemessen würdigt. Auch den parallel dazu verlaufenden Erneuerungsbemühungen in Belgien versage er den nötigen Respekt. In Rügen dieser Art liegt eine Verkennung der jeder journalistischen Meinungssalbaderei entrückten Sprachmodalität künstlerischer Prosa. Vieles vom dem, was ein Autor als Bürger im realen Alltag begrüßen mag, bleibt für ihn als Dichter unergiebig. In Brüssel, so notiert der Dichter wahrheitswidrig und doch wahr, seien ihm im Dezember 1964 mehr Bucklige und Irre über den Weg gelaufen als sonst in einem ganzen Jahr. Bucklige und Irre: die demokratischen, auf Schonung bedachten Sprachkonventionen sind offenbar bewußt verletzt. Brüssel ist zum einen die Hauptstadt des ehemaligen Kolonialreiches Belgien, verantwortlich für die Greuel im Kongo, und zum anderen die Hauptstadt der europäischen Union, die sich nach ihrem Start als gemeinsamer Wirtschaftraum inzwischen vorzugsweise als Wertegemeinschaft sieht. Wer also sind die Buckligen und Irren in den Straßen Brüssels, wofür wurden sie von welchem Gott gestraft?

Zum gemeinsamen europäischen Wirtschaftraum speziell im Agrarsektor äußert sich Alec Garrad dahingehend, daß seine Nachbarn von der aberwitzigen Brüsseler Landwirtschaftspolitik immer fetter geworden seien. Das ist die Einschätzung einer Person im Buch und als solche dem Meinungsaustausch zugänglich. Die dichterische Vision zahlloser Buckliger und Irrer in der Brüsseler Innenstadt dagegen ist dem Meinungsstreit entzogen, sie ist im unmittelbaren Wortsinn indiskutabel. Fraglos aber hat sie eher Beziehung zur europäischen Wertegemeinschaft als zu Detailfragen der europäischen Ökonomie. Als zentraler europäischer, von Brüssel verwalteter Wert gilt, was ursprünglich eine bloße Regierungsform war und, um es nur zu erwähnen, nach dem Urteil des zeitgenössischen, politisch dezidiert nicht rechts orientierten französischen Philosophen Badiou* etwa, eine besonders schlechte: Demokratie. Das flammende Herz der Demokratie aber ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Was damit gemeint sein könnte, ist schwer zu verstehen. Selbst unter Aufwendung aller Kräfte des anempfohlenen eigenen Verstandes ist kaum einsehbar, wie der belgische Kinderschänder und -mörder Dutroux Kinder schänden und morden konnte, ohne dabei seine eigene menschliche Würde auch nur irgend anzutasten. Offenbar handelt es sich bei der Unantastbarkeit der Menschenwürde um ein dogmatisch abgesichertes säkulares Mysterium, das dem religiösen Dogma der Jungfrauengeburt motivisch verwandt ist. Während das religiöse Dogma der Unbeflecktheit weithin nur noch Zielscheibe säkularen Spotts ist, wird das säkulare Dogma der Unantastbarkeit unter seinen Anhängern zum Gegenstand religiöser Verzückung. Selysses gehört nicht zu den Begeisterten humanistischer Säkularität, gleichzeitig steht er dem Unbeflecktheitsmotiv zumindest mit Gleichmut gegenüber. Auf Pisanellos Bild San Giorgio con capello di paglia mögen ihn vordringlich die Heiligen Georg und Antonius angehen, es stört ihn aber nicht, wenn die obere Bildhälfte von der Jungfrau mit dem Erlöserkind ausgefüllt wird. Er bedauert, nicht auf Dauer das immer unschuldiger werdende Leben der Ashburys geteilt zu haben, und meint damit auch die sexuelle Unschuld.

Wenn das Mysterium der unantastbaren Menschenwürde motivisch der Jungfrauengeburt zuzuordnen ist, so entspricht es in seiner zentralen Stellung innerhalb der säkularen Mysteriologie dem Kreuzestod im Christentum. Wir hören Giottos Engel in ihrer lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird. Die untere Bildhälfte wird uns vorenthalten, sie zeigt die Beweinung Christi. Der verborgene Christus wird an einer ganz anderen Stelle des Werkes nachgeliefert. Wir sehen die Anatomen versammelt um den Leichnam, der jetzt derjenige des Aris Kindt ist, und den die Forscher nicht beweinen, sondern aufschneiden auf der Suche nach lebenserhaltenden Maßnahmen für die Menschheit. Das ewige Leben hingegeben für ein verlängertes Leben, das will niemanden so recht überzeugen. Auch kann, was als unerschrockener Forschungsdrang der neuen Wissenschaft sich darbietet, nicht das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen verbergen, und die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung bis über den Tod hinaus.

Die Kunst, vorzugsweise Malerei und Musik, hat dem Christentum einen Raum jenseits des Meinungsstreits und auch jenseits der Dogmen verschafft. Nur besonders Entschlossene werden Grünewald oder Bach für die aus ihren Werken sprechende Mysteriengläubigkeit anfeinden. Die Moderne hat bislang für ihre Mysterien eine künstlerische Ikonographie vergleichbarer Qualität nicht entwickeln können. In welcher Bildkategorie könnte die Unantastbarkeit der Menschenwürde unverrückbaren Ausdruck finden? Rembrandts Bild von der Anatomie des Dr. Tulp läßt die Schwierigkeiten erahnen. Die Architektur bietet sich an als Abbild der Moderne, aber viele, angeführt von Austerlitz, trauen ihr nicht über den Weg, die neue Nationalbibliothek, die in Paris an die Stelle der alten tritt, erweist sich als Alptraum. Am Theater hat man versucht, ein künstlerisches Bild des verborgenen Mysteriums demokratischer Verhältnisse durch Kontrastwirkung zu erzeugen, indem man bei Aufführungen von Sophocles, Shakespeare, Racine, Goethe oder wem auch immer die Schauspieler entweder in Naziuniformen oder in KZ-Kitteln oder teils in Naziuniformen und teils in KZ-Kitteln auf die Bühne schickte, ein kläglicher Versuch, der, wie man sich denken kann und wie sich bei Gelegenheit eines Besuchs der Bregenzer Festspiele zeigt, Selysses' Beifall nicht findet: Im Zuge der sogenannten Wiedergutmachung war man auf den Gedanken gekommen, auch den Hebräern ihr Recht werden zu lassen und hatte sie bei einer Nabucco-Inszenierung aus den anonymen Sklaven richtige Juden in Zebraanzügen gemacht. Da stand ich nun unschlüssig mit meiner Einlaßkarte auf dem Vorplatz, weil ich den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen wollte.

Die Kunst gilt noch, wenn, wie im Fall der unbefleckten Empfängnis, das Dogma schon nicht mehr gilt, und das Dogma ohne Kunst im Rücken, wie im Fall der Unantastbarkeit, ist kraftlos. Die christliche Bilderwelt kann sozusagen wegen mangelnden Nachwuchses nicht aus der Hand gegeben werden. Die Heiligen taumeln durch Sebalds Prosa, die Buckligen und Irren in den Straßen Brüssels aber sind die Versehrten der Moderne, und wer ist nicht versehrt auf die eine oder andere Weise.

*cf.  La République de Platon, 2012

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