Sinnenfreude
Über die Anna Seelos erfahren wir noch weniger als über die Rosina Zobel und das wenige liegt in einem Nebel von Gerüchten und Mutmaßungen, die wir fortspinnen müssen. Die Anna hat ihre Tage beim Kaffeesieden verbracht, das sie auf die türkische Art vornahm. Auf wieviel Tassen täglich wird sie es bei diesem ihren einzigen Zeitvertreib gebracht haben? Sie war eine schwere, langsame Frau und die türkische Art ist vergleichsweise zeitaufwendig. Nichts weist auch darauf hin, daß sie, die seit dem Tode ihres Mannes allein wohnte, über das Kaffeesieden die allgemeinen Haushaltspflichten vernachlässigt hätte, so daß die hohen Stückzahlen, wie sie Balzac oder Edgar Wallace zugeschrieben werden, eher nicht erreicht wurden. Wenn es zunächst heißt, sie habe die türkische Art der Zubereitung von ihrem Mann erlernt, der als erfolgreicher Baumeister längere Zeit auch in Konstantinopel verbracht hatte, und dessen Andenken sie auf diese Weise zu ehren wußte, wird später erwogen, die orientalische Kaffeekunst habe sie womöglich erst später von dem jungen Türken Ekrem übernommen, der sich in dem Büro des verstorbenen Baumeisters eingerichtet hatte, verbunden naturgemäß mit der unausgesprochenen Frage, ob es bei dem Verhältnis zwischen der Anna und dem Ekrem ausschließlich um den süßen Mokka gegangen ist. Daß Annas Tochter Lena beizeiten mit einem Kind Ekrems niedergekommen ist, macht diese Erwägungen nicht gegenstandslos, nicht zuletzt im ländlichen Raum ist die Sinnenfreude so allgegenwärtig wie ansonsten nur die drückende Last des Lebens.
Für Rosina Zobel stand Kaffee nicht obenan auf der Liste. Nachdem sie die Führung des Wirtshauses vor etlichen Jahren aufgegeben hatte, hielt sie sich den ganzen Tag in ihrer halbverdunkelten Stube auf. Entweder sie saß in ihrem Ohrensessel, das Weinglas in der Hand, oder sie ging mitsamt dem Glas hin du her, oder sie lag auf dem Kanapee. Ihre beiden Kinder sind bei einer Tante aufgezogen worden, weil die Engelwirtin nach der Geburt der Tochter mit dem schweren Trinken angefangen hat und nicht mehr imstande gewesen ist, die Kinder zu versorgen. Niemand wußte, ob der Rotwein sie schwermütig gemacht oder ob sie aus Schwermut zum Rotwein gegriffen hat. Kurios ist, daß man sie nie bei einer Arbeit sah, weder kaufte sie ein, noch kochte sie, noch sah man sie Wäsche waschen oder das Zimmer aufräumen, ein wahres Rätsel, da weder von einer Haushaltshilfe etwas bekannt noch auch eine besondere Verwahrlosung auffällig war. Die undurchsichtige Situation wird noch weitaus undurchsichtiger dadurch, daß im Hinterzimmer der an einer mysteriösen Wunde leidende Mann der Rosina als Pflegefall bettlägrig sein sollte, wo doch die Rosina ganz offensichtlich zur Pflege weder willens noch imstande war. Fast schon denkt man an den grauen Jäger, der im Haus der Mathild Seelos angeblich den Dachboden bewohnte und sich im nachherein als eine Kleiderpuppe erwiesen hat, der man ein Jägergewand übergeworfen hatte. Tatsächlich wird es auch dem Dichter rückblickend immer unwahrscheinlicher, daß es den Engelwirt tatsächlich gegeben haben soll, wenngleich genauere, vor Ort angestellte Nachforschungen daran angeblich keinen Zweifel ließen. Wie zuverlässig aber waren die Nachforschungen und vor allem: für welche Dauer konnte die Liegezeit des kranken Wirtes bestätigt werden?
Selten nur wirft der Dichter einen tieferen Blick in die Abgründe von Ehe und Familie, und hier, bei den beiden Trinkerinnen, lassen sich die Gerüchte und Mutmaßungen fortspinnen, ohne daß die Wahrheit klar aufscheint. Je nach Temperament wird man einer freundlichen oder einer weniger freundlichen Annahme zuneigen. In der freundlichsten Annahme hat die Anna ihm, dem toten Gatten, über die Jahre hin in der Gestalt ungezählter Tassen türkischen Mokkas ein fortwährend fließendes Denkmal gesetzt, die Rosina hat ihren kranken Mann über die Jahre hin ebenso liebevoll wie unauffällig gepflegt. Die härteste Annahme wäre, der Ekrem war auf zwei Ebenen und sozusagen schon im Bereich der Blutschande tätig und bei der Rosina ist irgendwann etwas in der Art geschehen, wie wir es, nicht ohne Schaudern bei der bloßen Erinnerung, aus dem Kinofilm Das Fenster zum Hof kennen. Wer im Bereich der Kunst vornehmlich an Darstellungen der Schlachtung des Holofernes bei Caravaggio und anderen Gefallen findet, wird sich für die härteren Annahmen entscheiden, wer gern vor den Bildern Ludwig Richters verweilt für die freundlichen. Naturgemäß sind Freunden der Mitte mittlere Lösungen nicht verschlossen.
Über die Anna Seelos erfahren wir noch weniger als über die Rosina Zobel und das wenige liegt in einem Nebel von Gerüchten und Mutmaßungen, die wir fortspinnen müssen. Die Anna hat ihre Tage beim Kaffeesieden verbracht, das sie auf die türkische Art vornahm. Auf wieviel Tassen täglich wird sie es bei diesem ihren einzigen Zeitvertreib gebracht haben? Sie war eine schwere, langsame Frau und die türkische Art ist vergleichsweise zeitaufwendig. Nichts weist auch darauf hin, daß sie, die seit dem Tode ihres Mannes allein wohnte, über das Kaffeesieden die allgemeinen Haushaltspflichten vernachlässigt hätte, so daß die hohen Stückzahlen, wie sie Balzac oder Edgar Wallace zugeschrieben werden, eher nicht erreicht wurden. Wenn es zunächst heißt, sie habe die türkische Art der Zubereitung von ihrem Mann erlernt, der als erfolgreicher Baumeister längere Zeit auch in Konstantinopel verbracht hatte, und dessen Andenken sie auf diese Weise zu ehren wußte, wird später erwogen, die orientalische Kaffeekunst habe sie womöglich erst später von dem jungen Türken Ekrem übernommen, der sich in dem Büro des verstorbenen Baumeisters eingerichtet hatte, verbunden naturgemäß mit der unausgesprochenen Frage, ob es bei dem Verhältnis zwischen der Anna und dem Ekrem ausschließlich um den süßen Mokka gegangen ist. Daß Annas Tochter Lena beizeiten mit einem Kind Ekrems niedergekommen ist, macht diese Erwägungen nicht gegenstandslos, nicht zuletzt im ländlichen Raum ist die Sinnenfreude so allgegenwärtig wie ansonsten nur die drückende Last des Lebens.
Für Rosina Zobel stand Kaffee nicht obenan auf der Liste. Nachdem sie die Führung des Wirtshauses vor etlichen Jahren aufgegeben hatte, hielt sie sich den ganzen Tag in ihrer halbverdunkelten Stube auf. Entweder sie saß in ihrem Ohrensessel, das Weinglas in der Hand, oder sie ging mitsamt dem Glas hin du her, oder sie lag auf dem Kanapee. Ihre beiden Kinder sind bei einer Tante aufgezogen worden, weil die Engelwirtin nach der Geburt der Tochter mit dem schweren Trinken angefangen hat und nicht mehr imstande gewesen ist, die Kinder zu versorgen. Niemand wußte, ob der Rotwein sie schwermütig gemacht oder ob sie aus Schwermut zum Rotwein gegriffen hat. Kurios ist, daß man sie nie bei einer Arbeit sah, weder kaufte sie ein, noch kochte sie, noch sah man sie Wäsche waschen oder das Zimmer aufräumen, ein wahres Rätsel, da weder von einer Haushaltshilfe etwas bekannt noch auch eine besondere Verwahrlosung auffällig war. Die undurchsichtige Situation wird noch weitaus undurchsichtiger dadurch, daß im Hinterzimmer der an einer mysteriösen Wunde leidende Mann der Rosina als Pflegefall bettlägrig sein sollte, wo doch die Rosina ganz offensichtlich zur Pflege weder willens noch imstande war. Fast schon denkt man an den grauen Jäger, der im Haus der Mathild Seelos angeblich den Dachboden bewohnte und sich im nachherein als eine Kleiderpuppe erwiesen hat, der man ein Jägergewand übergeworfen hatte. Tatsächlich wird es auch dem Dichter rückblickend immer unwahrscheinlicher, daß es den Engelwirt tatsächlich gegeben haben soll, wenngleich genauere, vor Ort angestellte Nachforschungen daran angeblich keinen Zweifel ließen. Wie zuverlässig aber waren die Nachforschungen und vor allem: für welche Dauer konnte die Liegezeit des kranken Wirtes bestätigt werden?
Selten nur wirft der Dichter einen tieferen Blick in die Abgründe von Ehe und Familie, und hier, bei den beiden Trinkerinnen, lassen sich die Gerüchte und Mutmaßungen fortspinnen, ohne daß die Wahrheit klar aufscheint. Je nach Temperament wird man einer freundlichen oder einer weniger freundlichen Annahme zuneigen. In der freundlichsten Annahme hat die Anna ihm, dem toten Gatten, über die Jahre hin in der Gestalt ungezählter Tassen türkischen Mokkas ein fortwährend fließendes Denkmal gesetzt, die Rosina hat ihren kranken Mann über die Jahre hin ebenso liebevoll wie unauffällig gepflegt. Die härteste Annahme wäre, der Ekrem war auf zwei Ebenen und sozusagen schon im Bereich der Blutschande tätig und bei der Rosina ist irgendwann etwas in der Art geschehen, wie wir es, nicht ohne Schaudern bei der bloßen Erinnerung, aus dem Kinofilm Das Fenster zum Hof kennen. Wer im Bereich der Kunst vornehmlich an Darstellungen der Schlachtung des Holofernes bei Caravaggio und anderen Gefallen findet, wird sich für die härteren Annahmen entscheiden, wer gern vor den Bildern Ludwig Richters verweilt für die freundlichen. Naturgemäß sind Freunden der Mitte mittlere Lösungen nicht verschlossen.