Von einer Dame mit Hündchen, Dama s sobatschkoj, kann in mehrfacher Hinsicht nicht die Rede sein. Damen waren ein Erzeugnis vergangener Standesgesellschaften und definierten sich, betrachtet man nur das Ökonomische, durch ein hohes, nicht auf Erwerbstätigkeit beruhendes Einkommen. Die gesellschaftliche Gruppe der Damen ist beginnend im 19., dann aber rapide im 20. Jahrhundert stark rückläufig, die Friedhofswärterin aber wäre dieser Gruppe ohnehin nicht zuzurechnen. Damen leben gleichwohl fort in sprachlichen Derivaten, als Empfangsdamen etwa, einer im Prosawerk des Dichters stark vertretene Gruppierung, der als Untergruppierung auch die Wärterinnen zugerechnet werden können. Als engste Verwandte der Friedhofswärterin ist die Mesnerin von Sant’Anastasia anzusehen, die sich allerdings in zwei wesentlichen Punkten von der Friedhofswärterin unterscheidet: Sie führt eine Innenraumexistenz, während die Wärterin ihre Aufgabe unter freiem Himmel erfüllt, und sie hat keinen Hund. Innerhalb der gesamten Gruppe der Empfangsdamen hat im übrigen einzig die Friedhofswärterin einen Hund, wenn man absieht von dem durchweg männlichen Paar, das in den Niederlanden in Hotel betreibt und an Kindesstatt einen Zwergpudel verwöhnt. Als verwandt könnte ferner die Wärterin des Giardino Giusti gelten, von der wissen wir aber nur, daß sie in einem dunklen Gehäuse saß und dem Erzähler beim Verlassen des Parks zunickte. Aufgrund ihrer Kleinwüchsigkeit ist die Friedhofswärterin überdies weitläufig der Gruppe der Verwachsenen und Krüppel zuzuordnen, die eine nicht unerhebliche Schnittmenge mit den Empfangsdamen teilt, man denke nur an die männliche Empfangsdame des Hotels in Ithaca, an den Portier, der so stark vornübergebeugt ging, daß er mit Sicherheit nicht imstand war, von seinem Gegenüber mehr als die Beine und den Unterleib wahrzunehmen. Bei der Friedhofswärterin ist allerdings das Maß der Kleinwüchsigkeit schwer abzuschätzen, da es sich letztlich aus dem Verhältnis zu ihrem Hund ergibt, der beinah so groß war wie sie selber. War der Hund riesig, war sie vielleicht nur klein, wenn der Hund, wie die angegebene Rasse vermuten läßt, groß aber nicht übergroß war, war sie tatsächlich sehr klein.
Diese systematischen Vorüberlegungen haben die Friedhofswärterin dermaßen dekonstruiert und konsterniert, daß ihr das Leben zurückgegeben werden muß. Den Friedhof habe er, so Austerlitz, erst wenige Tage vor seiner Abreise aus London entdeckt. Drinnen, hinter der Mauer, spazierte eine vielleicht siebzigjährige, auffallend kleinwüchsige Frau, die Wärterin des Friedhofs, wie sich herausstellte, in Hausschuhen über die zwischen den Gräbern hindurchführenden Wege. An ihrer Seite, beinahe genau so groß wie sie selber, ging ein grau gewordener belgischer Schäferhund, der auf den Namen Billie hörte und sehr furchtsam war. - Frau und Hund, ein gemeinsam alt gewordenes Paar. Die Schulterhöhe eines belgischen Schäferhundes liegt unter siebzig Zentimetern, allenfalls ein Meter Scheitelhöhe, man ist nahe bei der Erde, unter der Erde die Toten. Austerlitz hat offenbar mit der alten Frau gesprochen, wie würde er sonst ihren Beruf und den Namen des Hundes kennen. Der Realität macht er aber nur die unumgänglichen Zugeständnisse, die Verzauberung bleibt erhalten: In dem hellen Frühlingslicht, das die frisch ausgeschlagenen Lindenblätter durchstrahlte, hätte man meinen können, man sei eingetreten in eine Märchenerzählung, die, genau wie das Leben selber, älter geworden ist mit der verflossenen Zeit. – Es war einmal ist das Tempus des Märchens, wenn wir uns darauf einlassen, gleiten wir, dem Charakter des Ortes angemessen, in die verflossene Zeit.
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