Donnerstag, 19. Juli 2018

In der großen Stadt

Imaginär

Warum schreibt der Dichter von W., wo doch jeder weiß oder wissen kann, es handelt sich um Wertach. Keine Ortschaft auf der Welt sei ihm inzwischen fremder als sein Heimatort, hatte er vorausgeschickt. Kommt in der Verkürzung auf das Initial Abneigung zum Ausdruck? Die sich anschließenden Seiten belegen diese Deutungsmöglichkeit nicht. Der Grund ist darin zu suchen, daß der Dichter zwei Ortschaften besucht, das aktuelle Wertach, das er, nach dem er ein Zimmer im Engelwirt genommen hat, kaum mehr beachtet, und das W. seiner Kindheit, ein inzwischen nur noch imaginäres W., das er aus der Erinnerung hervorholt. W. ist ein Ort jenseits von Wertach.

Naturgemäß erscheinen an anderer Stelle im Prosawerk nicht etwa P. und L., sondern Paris und London. Zum einen werden diese Städte vom Erzähler mit einiger Regelmäßigkeit besucht, und zum anderen sind große Städte resistenter gegenüber der vergehenden Zeit. Oft haben sie einen nicht veränderbaren, historischen Ortskern, nach einer Zerstörung wird er sorgfältig restauriert, jedenfalls in Polen. Rano przyjechałem do tego wielkiego miasta, frühmorgens kam ich an in dieser großen Stadt. Den ganzen Tag bin ich in ihr herumgegangen, durch ihre Straßen und über ihre Brücken, von denen es viele gibt in dieser Stadt. Durch die Stadt fließt der zweitgrößte Fluß des Landes, aber nicht in einem Flußbett, sondern in einer Vielzahl von Kanälen, die sich irgendwo, hinter der Stadt, wieder verbinden müssen, die Stadt aber ist voller Kanäle und mithin voller Brücken über die ich den ganzen Tag gegangen bin. – Würde der erste Satz lauten: Frühmorgens kam ich in Breslau an, oder wenn uns im ersten Satz auch nur das W. für Wrocław begegnete, so wäre der Zauber, der jeden für Prosa Empfänglichen sofort gefangennimmt, zum guten Teil verflogen. Der Name Breslau wird bis zum Ende der Erzählung Jeden dzień, Ein Tag, nicht genannt, der Erzähler führt uns durch eine reale und zugleich imaginäre Stadt, ein geeignetes Pflaster, wenn man so sagen darf, für Stachuras Stil, der fortwährend wechselt zwischen einer insistierenden, durch scheinbare Ungeschicklichkeiten, Umständlichkeiten und kreisende Wiederholungen gekräftigten, die Realität des Realen geradezu beschwörenden Beschreibung – gleich zweimal in drei Sätzen erfahren wir, er sei über die Brücken gegangen ist, so als wolle er sich festhalten an dieser schlichten und unbezweifelbaren Wahrheit – und einem metaphysischem, wenn nicht wahnhaftem Entweichen: Prawie po kazdym mosćie przystawałem, fast auf jeder Brücke blieb ich stehen. Ich stützte mich auf das Geländer und schaute für einige Zeit auf das Wasser, ohne es aber wirklich zu sehen, das heißt, ich sah das Wasser zunächst, wenn ich mich über das Geländer gebeugt hatte, aber dann sah ich es gleichsam nicht mehr. Ich schaute für einige Zeit hartnäckig auf das Wasser, das ich auch sah für einige Zeit, aber dann löste es sich auf, und verwandelte sich in Luft und Nebel, wenn es denn einen derart durchsichtigen Nebel gibt. - Vielleicht sind es aber auch nur Schwindelgefühle, verursacht von der Kreisbewegung der Sätze.

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