Freitag, 10. August 2018

Rorate

Ein neuer Tag

Der Lukas hatte ihn, wie er ihm gleich sagte, mehrfach aus dem Engelwirt heraustreten sehen, aber nicht gleich gewußt, wo er ihn hintun sollte. Natürlich sei es nicht das Kind gewesen, an das er sich erinnert habe, sondern der Großvater, der denselben Gang gehabt habe wie er und beim Herauskommen aus seiner Haustür geradeso zuerst stehengeblieben sei, um nach dem Wetter zu schauen. Der Blick nach oben, ein kurzes meteorologisches Morgengebet. Viele Kulturen und Religionen kennen das Morgengebet. Die Navajos erwecken und erneuern im Morgengebet, noch in der Dämmerung eines jeden Tages, die Harmonie im natürlichen Lebensfeld, man bedrängt die Götter nicht mit Bitten, sie haben alles gesagt, was zu sagen ist. Für fromme Juden ist das zeitaufwendige Morgengebet Schacharit unerläßlich. Die katholische Tradition, in der auch der auch der Großvater und sein Enkel stehen, verfügt mit dem Rorate über ein zweifellos wetterbezogenes Morgengebet: Rorate caeli desuper, et nubes pluant iustum, tauet Himmel von oben, ihr Wolken, regnet den Gerechten. Der wetterprüfende Blick nach oben, ein Rorate in nuce. Stachura seinerseits ist ein Gläubiger des heidnischen Morgengebets. Immer verfolgt ihn die Angst, daß der einzelne Tag nicht genug gewürdigt wird, daß eine Mehrzahl von Tagen zu einem einzigen Tag verschmilzt, Tage, die nicht zählen. Jeder neu beginnende Tag muß gefeiert werden, immer wieder taucht dieses Motiv auf, die Erzählung Roraty ist ihm ganz gewidmet und gibt uns ein Beispiel einer derartigen Morgenfeier. Die Feier besteht in nichts als einer sorgfältigen Aufmerksamkeit für den neu beginnenden Tag:

Stałem na progu, ich stand an der Schwelle und schaute nach Osten. Ein Hahnenschrei erschütterte die Luft jak histeria. In zwei Häusern ging gleichzeitig das Licht an. Stałem na progu, ich stand an der Schwelle, die Stille verschlug mir den Atem. Die Luft lichtete sich langsam, und das Sichtfeld nahm Gestalt an. Die Morgenkühle, chłód, erfaßte mich. Die Morgenkühle, sage ich, berührte mich und vielleicht ein wenig auch das ferne Rattern eines Zuges. Die Luft lichtete sich weiter, die Sterne verblichen, im Gras blinkten Tautropfen, rorate. Zum Tagesbeginn kann und muß man Milch trinken, Zeit sich auf den Weg zu machen. Auf dieser Seite des Planeten beginnt der Tag. In der Hand hielt ich einen Augenblick der Ewigkeit wie einen Sperling. So begann für mich der letzte Tag des Lebens, aus der Ewigkeit heraus. Eine erste Menschengestalt trat auf die Bildfläche. Die Ewigkeit, sage ich ein weiteres Mal, hielt ich in der Hand wie einen jungen Sperling, jakbym trzymał młodego wróbla, die bleichen Sterne zogen sich nach Westen zurück. Ich war nicht auf einem Feld, ich war in der Stadt. Ein makelloser Tag kündete sich an. Eine weitere Menschengestalt trat auf die Straße, eine weitere und eine dritte, zu dritt gingen sie mit schnellem Schritt dahin, mit den Armen rudernd. Und nun die Sonne, Helligkeit ergoß sich über das Blickfeld wie der Nil. Ich trat auf den Markt, atmete tief. Rundherum begann das menschliche Leben, und ich fehlte nicht, mnie tu nie brakowało, ich war dabei.  

Das ist ein Rorategebet Stachuras, ausgedehnt wie das Morgengebet der Juden, hier in extremer, eigentlich unzulässiger Verkürzung vorgestellt. Jeden Tag ein anderes, spezielles, wenn auch immer ähnliches Gebet, je nach Aufenthalt städtisch oder ländlich gefärbt.

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