Klare
Beschreibung
In Manchester
durchlebt der Dichter als junger Mensch ein unbegreifliches Gefühl der
Unverbundenheit, das ihn leicht aus dem Leben hätte entfernen können. Im
reiferen Alter leidet er in Wien und Oberitalien unter Schwindelgefühlen. Das
sind fragmentale und momentane Selbstbeschreibungen, die kein zuverlässiges und
dauerhaftes Gesamtbild eröffnen. Hier überfällt uns die klare Beschreibung wie
ein Rausch, ein Sturm, der die versprochene Klarheit in keiner Weise zuläßt.
***
Ich war am Ende. Erledigt, tödlich erschöpft, dann und wann dachte ich, ich würde die Fassung verlieren. Schon das sechste lange Jahr war ich allein mit der realen und der irrealen Umgebung und war am Ende meiner Kraft. Ich war lebendiges Gummi zu dem Zeitpunkt, als ich alles fortwarf, ich ging entlang der Schienen, um ein zweites Mal geboren zu werden, diesmal ohne Hebamme, Windeln und kostenlose Milch. Und die ganze weitere unschuldige Kindheit.
Ich erinnere mich nicht an den ersten Tag meiner ersten Geburt. Ich erinnere mich sehr wohl an den ersten Tag meiner zweiten Geburt. Ich ging auf den Schienen entlang, dann auf einem Weg oberhalb der Gleise, gegen Abend setzte Regen ein und ich war naß wie eine in den Teich geworfene Sonnenblume. In der heißen Nacht glühte mein Kopf. Kalte Schauder schüttelten die frisch gepflanzten Setzlinge.
Das war, ich erinnere mich gut, der erste Tag meiner zweiten Geburt, es war heiß, die Taufe aber, wie schon gesagt, ein kräftiger Guß. Härtung von Stahl. Und alles weitere erfolgte ebenso blitzartig und scharf. Schlaflieder wurden nicht gesungen, alles Schlag auf Schlag. Einige Wochen fand ich mich in der Klinik, im Krankenhaus. Schlaflieder wurden nicht gesungen, alles Schlag auf Schlag. Bis die Stirn platzte. Die Treppe war so steil, praktisch senkrecht, nicht zum Herabsteigen, nur ein Sturz nach unten. Nach unten in den Brunnen, marsch!
Letztlich war es nicht gerade fröhlich für mich in diesem verborgenen Sinn. Ich fühlte mich an der Grenze. Lag es daran, daß ich zwischen dem heiligen Wachsein und dem heiligen Schlummer der heiligste war? Und was dann? Wenn ich erschöpft war. So schrecklich nach Menschenart erschöpft, daß es mir zeitweise so vorkam, als würde ich mich überdrehen. Ich war nicht gebrochen, nicht geschlagen. Ich war erschöpft. Sehr. Ich war vielleicht so erschöpft wie überhaupt möglich. Und man erlaube mir zu sagen, daß ich keineswegs lästere, und auch wer an meinen Worten zweifelt, lästert nicht, denn jeder hat das Recht zu zweifeln, aber es lästert, der da sagt: Was soll’s. Nichts. Ich weiß das meine. Man lasse mich nur das meine wissen. Jeder soll ungestört das seine wissen. Ich weiß das meine, du das deine. Pakoj tiebia, ja oczeń rad.
Das sechste lange Jahr schon bin ich allein mit mir, Auge in Auge mit der realen und der irrealen Welt, und vielleicht, ich weiß nicht, waren wir beide an unserer Grenze angelangt. Ich weiß nicht, ich weiß nur meins. Ich fühlte mich an der Grenze. Tödlich erschöpft vom andauernden Partisanentum schien es bisweilen, als hätte ich Land erreicht. Daß ich schon in einem Garten war und mich mit der Gans begrüßte. Eine leichte Hitze nur im Kopf, aber fortwährend wurde die Substanz verbrannt. Im Schlaf ließen mich die Traumbilder nicht aus dem Auge.
Ich träumte von Riesen mit wilden Gesichtern. Ich lief fort, einer von ihnen verfolgte mich, ich lief durch die Straßen der Stadt, sah irgendwo einen Polizisten, lief hilfesuchend auf ihn zu, der Polizist war ein kleiner Zwerg. Dann verschwand er ganz. Der Riese aber stand über mir und lachte, und das Gelächter erscholl wie in einem großen leeren Hangar. Ich konnte nicht fliehen. Meine Beine waren auf dem Gehweg festgewachsen, der Riese aber lachte immerfort, mit einer Stimme wie der Donner über der Niederung, mein Gott, so als verlache er das Tal.
Schließlich wachte ich auf, aber nicht wie ein Stieglitz. Nur wie ein Aufgeweckter. Wie ein unter einer Lawine Vergrabener. Langsam kam ich zu Sinnen. Das brauchte einige Zeit. Ich ging hinaus auf den Hof, durchquerte ihn nach allen Seiten. Und lebte. Ja, ich konnte leben. Aus ganzer Seele und mit aller Kraft. Restlos. Weder mich noch andere schonend. Zwischen dem heiligen Wachsein und dem heiligen Schlummer war ich inmitten eines Wirbels. Kaufmannsgedanken überließ ich schon seit langem mit leichter Hand dem älteren Bruder, noch bevor er aufhörte, das zu sein. Ich nahm alles, gutes und schlechtes und gab das allerbeste fort. Und ich bemühte mich, es so fortzugeben, daß niemand es sah. Nicht einmal der Beschenkte. Denn so muß man verschenken. Wie eine Arme, aber über den Königen stehende, Pani Sierantowa. Was man mit der linken Hand gibt, darf die rechte nicht sehen. Sichtbare Gesten des Guten werfen wir auf den Müll.
Und so lebte ich. So, wie ich zu leben vermochte. So, wie ich zu leben liebte. Aus ganzer Seele und mit aller Kraft. Bis zum Umfallen. Vierzig, fünfzig Stunden ohne die Augen zu schließen. Vor Müdigkeit sah ich aus wie ein Opfer und nicht wie ein junger Gott. Müde wie ich war, fühlte ich nicht nur die die letzte, große Müdigkeit, sondern auch die vorletzte und alle davor. So, als ließen sie sich schon nicht mehr tilgen. Müde fühlte ich, als ob alle meine Müdigkeiten auf einen Haufen geworfen vom Berg herab auf die Erde stürzten: Sial, Sima und so weiter.
Und so lebte ich. So, wie ich zu leben liebte. Bis zum Umfallen. Zwei volle Zeigerumläufe, wohlklingend, als liefe ein Fuchs über gefrorenen Schnee, und meine Augenlider zuckten nicht. Denn es tat mir leid. Es tat mir leid, sage ich, die Arena zu verlassen und hinter den Kulissen ungesehen schlafen zu gehen. So also drehte ich mich. Andere änderten sich, ich änderte mich nicht. Die Tageszeiten wechselten, der Morgen, nach ihm der Nachmittag, dann der Abend, die Nacht, das unbefleckte Morgengrauen, die Tageszeiten änderten sich, aber ich änderte mich nicht. Es änderte sich die Dekoration, die Sonne leuchtete am weiten Himmel, dann zogen Wolken auf, in einer weiten Schleife, hinter den Fenstern wurde Licht angemacht, es begann zu regnen, die Straßenlaternen leuchteten, es regnete, es regnete, die Straßenlaternen gingen aus, die Sonne ging auf, die Dekoration änderte sich, aber ich änderte mich nicht. Denn es war mir leid. Leid. Denn ich wollte dabei sein, allgegenwärtig, ich wollte sein. Und ich war. Solange ich nicht auf ein im Fluß mir entgegen schwimmendes Bett fiel, einen Sessel, auf eine Liege, eine Matratze, ein gemachtes Bett, eine Bank, einen Tisch, dem auszuweichen ich nicht mehr die Kraft hatte.
Und es träumten mir große verlassene, menschenleere Städte. Ich ging die Straßen entlang auf dem erhitzten Asphalt, es war still wie ein Mord, und während ich ging, spürte ich, daß mir die Adern platzen würden. Ich ging auf Zehenspitzen, immer wieder fiel ein großes verlassenes Haus lautlos in sich zusammen. Bruchstücke, Platten, Steinblöcke, Ziege, Türrahmen und Fensterscheiben flogen nach allen Seiten fort wie in einem Zeitlupenfilm.
Mir träumte von blutleeren Schatten. Auf aufgehängten riesigen Planken warfen sie sich aufeinander, kämpften um Leben und Tod, schlugen und erdrückten sich gegenseitig. In der Luft, unklar woher, ein Klingen, Rumpeln und Brüllen, unklar woher, Opernmusik. Mir träumte von Gnade, träumte von Angst, träumte von Grauen.
Schließlich wachte ich auf, nach zehn, fünfzehn verschwendeten Stunden, denn das war kein Leben und kein Tod, nicht die ewige Ruhe, nichts Vorübergehendes, das war die Fliege auf dem Fliegenleim. Ein geflügelter Löwe mit einer Eisenkugel am Bein. Letztlich eine Beleidigung. Letztendlich wachte ich auf, aber nicht wie ein Zeisig. Einfach als Aufwachender. Wie eine begrabene Lawine. Wie jemand, der die Augen geöffnet hat, aber noch lange die Fragen nicht versteht. Ich erwachte und ging hinaus zum Gerichtshof.
Und ich lebte. So wie ich gerne lebte. Aus ganzer Seele und mit aller Kraft. Zwischen dem heiligen Wachsein und dem heiligen Schlummer war ich ein Kind dieses Unternehmens. So lebte ich. Bis mir der Kopf rauschte. Bis ich es hörte. Manchmal dachte ich, es rauscht nicht in meinem Kopf, sondern rundum in der Luft. Ich dachte, ich sei so weit gelangt, daß ich die reglose Luft rauschen hörte.
Und so, sage ich, lebten wir. Schrecklich, aber wunderbar, aber schrecklich, aber wunderbar. Und ich träumte, bei allem, was es war, ich träumte nicht von einer besseren Karriere, nicht vom Schwert und träumte auch nicht den schlichten Traum von vier Rädern und einer Karosserie. Solche Träume warfen wir auf dem Müll. Es ist klar, daß das, was ich zuvor von meinen Träumen erzählt habe, keine Träume waren. Das waren schlicht Wahnvorstellungen.
Was also träumte ich? Ich sage es jetzt. Ich träumte vom Absoluten. Grenzenlose Vergessenheit. Ich träumte, daß alle mich vergessen hatten. Daß ich in aller Köpfe verdampft sei ins tiefste Vergessen. Daß die, die ich kannte, mich in keiner Weise in ihren Gedächtnis bewahrt hatten, nicht das Geringste von mir wahrnahmen. Ich träumte: Glück auf eurer, Stille auf meiner Seite. Und möge es so sein. Das, was sein muß. Und ich träumte, daß ich in der Nacht vergessen durch ein Dorf ging, und die Hunde bellten nicht.
Und so lebten wir. Wenn ich traurig war, war ich schrecklich traurig. Restlos. Mit ganzer Seele und mit allen Kräften. Kyrieeleison. Ich schaute auf etwas oder durch etwas hindurch, als wäre mein Hirn den Körper verlassen. Und so, als würde ich mich ganz auflösen einschließlich der Knochen. Und so, als würde mein Blut auslaufen, dem Herzen nah und lieb. Und mit den Händen in der Tasche oder über das Haar streichend, oder eine Zigarette haltend oder ein Glas Tee, spürte ich nicht die Hände in den Taschen, oder die Zigarette oder das Teeglas, sondern so, als habe sich das alles in Luft aufgelöst. Sehr traurig.
Und so lebte ich. Mal traurig, mal froh, mal froh mal traurig. Wenn ich froh war, oh meine Liebste! Wenn ich froh war, war ich wundersam froh. Restlos. Aus ganzer Seele und mit aller Kraft. Mit dem ganzen schellschlagenden Herzen. Wundersam. Wunder schöpfend. Mit einem Lachen manchmal, wenn es mich erwischte, das das Gesicht verzerrte, ich fiel auf die Knie, am ganzen Körper zitternd, so als habe der Geist des Gelächters mich erfaßt. Ach, Santa Polonia, wenn ich froh war, war ich die reinste Freude, so als läuteten die Glocken. Und es war gut.
Und so lebte ich. Mal traurig, mal froh, mal froh mal traurig. Von der einen Seite zur anderen, von der einen Seite des Gehsteigs zur anderen, wie ein Betrunkener. Das läßt sich nicht vergleichen. Das ist kein sogenannter Vergleich. Den gibt es nicht. Denn ich schleppte mich von der einen Seite des Gehsteigs zur anderen. Betrunken. Ohne „wie“. Denn alles machte mich betrunken. Alles ringsherum. Alles. Ich mußte keinen Wodka tanken, Wodka für die Zirbeldrüse. Schon die Luft machte mich betrunken. Wenn ich hinausging nach dem Schlaf in das grelle Licht oder das gnädige Dunkel. Schnell verschlang mich ein Wirbelwind.
Inmitten dieses ewigen Seitenwechsels, mal hierhin, mal dahin, mal vom Berg herab, mal aus dem Tal empor, verfolgte mich manchmal in Gestalt eines zarten, milden und überwältigenden Verlangens. Manchmal dachte ich daher, es sei nicht so verkehrt, um es so zu sagen, wenn aus den Augen ein paar salzige Tropfen sickerten. Manchmal dachte ich, man solle das alles nicht aufhalten, auch wenn der Damm bräche. Manchmal jedoch brach jemand zusammen und weinte in der Stille einer vergessenen Ecke. Manchmal liefen jemandem Tränen über die Wangen. Er konnte das nicht aufhalten. Das war wie ein Aderlaß. Wie Blutegel. Aderlaß. Es war zu viel, die Dämme brachen.
Es passierte mir also manchmal, daß ich weinte. Selten aber, sehr selten passierte mir das, obwohl ich es wollte, dieses bescheidene Verlangen so sehr stillen wollte. Das war verdient. Verdient, sage ich. Möge ich nie wieder weinen, mögen mich die unterdrückten Tränen in der Kehle erwürgen, wenn ich je lüge. Denn was habe ich verdient, was habe ich verdient, zumindest doch wohl, daß ich in aller Stille, verborgen in einer Ecke vor mich hin weinen darf. Das habe ich in jedem Fall verdient. Da verschwinden all meine Zweifel, Bedenken, Vermutungen. Was weiß ich? Ich weiß das.
Es ist schwer, ohne Illusionen zu leben. Ich habe sie nie gehabt und will sie nicht haben. Jeder Tag war für mich der letzte Tag. Ich habe mir das eingeprägt und den wildesten Gedanken an die Leine genommen wie einen Wachhund im nicht umzäunten Kirschgarten. Das treue wachsame Tier riß, bellte, fauchte, heulte in der Nacht und erinnerte mich so an das, was ich manchmal vergaß. Daß jeder Tag der letzte Tag ist. Das ist ein schwerer Gedanke. Von schwerem Gewicht. Ich fühlte jede Tonne eines jeden Tages. Nicht selten fühlte ich, gleichmäßig verteilt auf jeden Zentimeter der Haut das Schreckliche des banalsten Augenblicks, zum Beispiel beuge ich mich nieder zur Pumpe, um Wasser zu trinken, oder, ein anderes Beispiel, jemand fällt einen Baum mit der Axt, und plötzlich flattert ein Schmetterling in der Luft, und dem Menschen fällt der Holzschlag auf den Buckel. Et cetera. Auch ein berufsmäßiger Artist wollte ich nicht sein, einige Tricks recht und schlecht beherrschen und den Leuten Sand in die Augen streuen. Das stieß ich von mir mit Händen und Füßen.
Und so lebten wir. Unsere Fußspuren waren dicht beieinander, verbrannt, aufgebrochen im lehmigen Grund einer ausgetrockneten Pfütze. Man weissagt aus der Hand, aber was ist mit den Füßen, was fängt sich da im Gestrüpp der Risse und Narben, der Punkte und Linien? Ja. Also, wenn überhaupt, was könnte man voraussagen? Welche Voraussagen wären möglich? Alles oder nichts. Nichts oder alles. Nichts oder das ganze Panorama. Der groß ausgebreitete Wahnsinn. Oder nichts vollständig, das nicht. Oder alles. Aber sind das überhaupt Voraussagen? Nein. Das sind keine Voraussagen. Das sind ganz normale Dinge: der normale Verlauf des Lebens mit den Verstrickungen im Stacheldraht. Das strebe ich an. Dahin bin ich gelangt, das habe ich angestrebt, und schön, schön sieht man hier die doppelte Rolle der Füße: tragbar und nicht tragbar.
Jetzt bin ich erschöpft. Sehr. So sehr wie nur möglich. Manchmal ist mir, als würde ich mich wegdrehen, wäre im Garten und würde die Gans begrüßen. Aber offensichtlich ist es noch nicht soweit. Anwesend! – so antwortete man in der Schule dem Lehrer, der die Liste vorlas. Anwesend. Noch bin ich anwesend. Noch lebe ich. So, wie ich zu leben vermag. So, wie ich es liebe zu leben. Aus ganzer Seele und mit aller Kraft. Bis zum Umfallen. Hart. Ohne Reserve, ohne Illusionen, ohne Tricks, ohne Maske. Manchmal drücken sie mir die Blazermütze mit dem Glöckchen auf die Stirn, die, die sich für klug halten. Herren und Damen – das entzückt mich. Also, ich lebe noch. Ich verbinde das eine Ende mit dem anderen Ende. Ich verzage nicht. Kaue das Futter, das Gras, werde Steine nagen, wenn es anders nicht möglich ist.
* * *
Opis, Beschreibung, wird man akzeptieren, czysty, klar, nicht unbedingt. In der Tat, keine der anderen, nicht mit dem Prädikat der Klarheit versehenen Erzählungen ist so unklar wie diese. Einige Kollegen haben Stachura Manierismus unterstellt. Manieristisch ist eine flache Prosa, die sich Zierat und Schnörkel zulegt. Diese Diagnose ist hier nicht angebracht. Stachuras Prosa ist ein aufgewühltes Land, sie führt über vernachlässigte Wege, zerstörte Gatter, eine undurchsichtige Welt.
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