Mittwoch, 18. Mai 2011

Kommentar Babel

Zu einer Reihe von Fragen, für die es, abgesehen von Deutungsvarianten, nur eine Antwort zu geben schien, hat Kafka überraschende und völlig neuartige Vorschläge gemacht. Hinzuweisen wäre etwa auf das wahrhaft revolutionäre Verständnis der Beziehung von Don Quijote und Sancho Pansa oder auf die Frage des Gesangs der Sirenen. Auch zu den vielleicht bedeutendsten Bauwerke der Geschichte, der Chinesischen Mauer und dem Turm zu Babel, hat Kafka eigenständige Ansichten. Nicht frevelhafter Übermut sei Anlaß gewesen für den Bau, sondern der Gedanke eines großen, die Menschheit einenden und Gott näherbringenden Werks. Letztlich sei der Bau dem Fortschrittsgedanken zum Opfer gefallen. Angesichts der ständig und rapide anwachsenden Kenntnisse und Fähigkeiten in der Baukunst schien es ratsam, den Baubeginn immer wieder auf die nächste, noch besser für die Ausführung des Plans gerüstete Generation zu verschieben. Mit dem vergehen der Zeit war wohl eine gewisse Unlust aufgekommen, wie Sebald eindrücklich an einem mißlungenen Probebau demonstriert. Überraschenderweise gehen beide Dichter nicht auf die großen Kathedralen der Christenheit ein, bislang wohl die gelungenste Umsetzung des Ausgangsgedankens. Streitigkeiten machen sich breit im Umfeld der brachliegenden Bauidee, jeder denkt nur noch an seinen Vorteil, alle Kräfte, die auf den Turm gewandt sein sollten gehen schließlich in den Festungsbau. Beim Bau der chinesichen Mauer, einem Festungsbau, wird denn auch die Umkehrung der Verhältnisse betont. Hier sei zum ersten Mal in der Menschenzeit ein sicheres Fundament für einen Babelturm geschaffen worden. Das ist zweifellos eine gänzlich ungesicherte Annahme, und gesehen hat den fertiggestellten Turm auch in China noch niemand.
Babel

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