Dienstag, 17. Mai 2011

Babel

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Anfangs war beim babylonischen Turmbau alles in leidlicher Ordnung, ja die Ordnung war vielleicht zu groß, man dachte zu sehr an Wegweiser, Dolmetscher, Arbeiterunterkünfte und Verbindungswege, so als habe man Jahrhunderte freier Arbeitsmöglichkeit vor sich. Die damals herrschende Meinung ging sogar dahin, man könne gar nicht langsam genug bauen; man mußte diese Meinung gar nicht sehr übertreiben und konnte überhaupt davor zurückschrecken, die Fundamente zu legen. Man argumentierte nämlich so: Das Wesentliche des ganzen Unternehmens ist der Gedanke, einen bis in den Himmel reichenden Turm zu bauen. Neben diesem Gedanken ist alles andere nebensächlich. Der Gedanke, einmal in seiner Größe gefaßt, kann nicht mehr verschwinden; solange es Menschen gibt, wird auch der starke Wunsch da sein, den Turm zu Ende zu bauen. In dieser Hinsicht also muß man wegen der Zukunft keine Sorgen haben, im Gegenteil, das Wissen der Menschheit steigert sich, die Baukunst hat Fortschritte gemacht und wird weitere Fortschritte machen, eine Arbeit, zu der wir ein Jahr brauchen, wird in hundert Jahren vielleicht in einem halben Jahr geleistet werden und überdies besser, haltbarer. Warum also schon heute sich an die Grenze der Kräfte abmühn? Das hätte nur dann Sinn, wenn man hoffen könnte, den Turm in der Zeit einer Generation aufzubauen. Das aber war auf keine Weise zu erwarten. Eher ließ sich denken, daß die nächste Generation mit ihrem vervollkommneten Wissen die Arbeit der vorigen Generation schlecht finden und das Gebaute niederreißen werde, um von neuem anzufangen. Zwar wurden versuchsweise immer wieder vorbereitende Bauten hochgezogen, die aber den Erwartungen in keiner Weise entsprechen konnten. Viele Stunden konnte man durch steinerne Gebirge irren, durch Säulenwälder, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß je ein Mensch nach dem Begehren gefragt hätte, über Korridore und Treppen, die nirgendwo hinführen, mit den türlosen Räumen und Hallen, die von nie jemand zu betreten sind, mit Gängen, einmal links- und dann wieder rechts herum, und endlos geradeaus, unter vielen Türstöcken hindurch, über knarrende, provisorisch wirkende Holzstiegen, die hie und da von den Hauptgängen abzweigen und um einen Halbstock hinauf- oder herabführen in dunkle Sackgassen, an deren Ende Rolladenschränke, Stehpulte, Schreibtische, Bürosessel und sonstige Einrichtungsgegenstände übereinandergetürmt stehen, als habe jemand in einer Art Belagerungszustand ausharren müssen. In diesen Palästen hätten sich, aufgrund seiner tatsächlichen Vorstellungskraft übersteigenden Verwinkelung immer wieder in irgendwelchen leerstehenden Kammern und abgelegenen Korridoren kleine Geschäfte, etwa ein Tabakhandel, ein Wettbüro oder ein Getränkeausschank sich einrichten können, und einmal soll sogar eine Herrentoilette im Souterrain von einem Menschen, der sich eines Tages mit einem Tischchen und einem Zahlteller in ihrem Vorraum installierte, in eine öffentliche Bedürfnisanstalt mit Laufkundschaft von der Straße und, in der Folge, durch Einstellung eines Assistenten, der das hantieren mit Kamm und Schere verstand, zeitweilig in einen Friseurladen umgewandelt worden sein, nicht das, was man vom Turmbau zu Babel erwarten durfte und mußte. Solche Gedanken und Fehlschläge lähmten die Kräfte und mehr als um den Turmbau kümmerte man sich um den Bau der Arbeiterstadt. Jede Landsmannschaft wollte das schönste Quartier haben, dadurch ergaben sich Streitigkeiten, die sich bis zu blutigen Kämpfen steigerten. Diese Kämpfe hörten nicht mehr auf; den Führern waren sie ein neues Argument dafür, daß der Turm auch mangels der nötigen Konzentration sehr langsam oder lieber erst nach allgemeinem Friedensschluß gebaut werden sollte. Doch verbrachte man die Zeit nicht nur mit Kämpfen, in den Pausen verschönerte man die Stadt, wodurch man allerdings neuen Neid und neue Kämpfe hervorrief. So verging die Zeit der ersten Generation, aber keine der folgenden war anders, nur die Kunstfertigkeit steigerte sich immerfort und damit die Kampfsucht. Schon bald ging alle Kraft, die in die Errichtung des Turms hätte gehen sollen, in die Errichtung von Befestigungsanlagen zur Sicherung der Arbeiterstädte. Dabei haben Generationen an dem von Grund auf verkehrten Gedanken festgehalten, daß man durch die Ausarbeitung eines idealen Tracé mit stumpfen Bollwerken und weit vorspringenden Ravelins eine Stadt so sichern könne, wie überhaupt auf der Welt etwas zu sichern sei. In der Praxis der Kriegsführung allerdings haben auch die weiterentwickelten Sternfestungen ihren Zweck nicht erfüllt. Wiederholt ist es vorgekommen, daß man sich gerade durch das Ergreifen von Befestigungsmaßnahmen, die ja grundsätzlich geprägt sind von einer Tendenz zu paranoider Elaboration, die entscheidende, dem Feind Tür und Tor öffnende Blöße gegeben hat, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß mit den immer komplizierter werdenden Bauplänen auch die Zeit ihrer Realisierung und somit die Wahrscheinlichkeit zunahm, daß die Festungen bereits bei ihrer Fertigstellung überholt waren, durch die inzwischen erfolgte Weiterentwicklung der Artillerie und der strategischen Konzepte – im Grunde eine Bestätigung der Bedenken, die den Turmbau bislang verhindert haben.

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