Helle Lichtung
Die russische Erzählliteratur des neunzehnten Jahrhunderts verdankt einen nicht geringen Teil ihres Zaubers dem ständigen Wechsel von Stadt und Land zum einen und von Inland und Ausland zum anderen. Das Ausland freilich, weil kein Rechtgläubiger, und sei es ein Renegat, je daran denkt, dort auf Dauer zu bleiben, erscheint als bloße Umgebung des einzigen Rußlands. Das Personal in Tolstois zwei großen Romanen, Anna Karenina und Krieg und Frieden, verfügt zum großen Teil über Häuser in Moskau und Petersburg und über Güter auf dem Land, mal ist man hier und mal ist man dort. Dostojewski beginnt als Großstadtdichter und verlegt die Handlung seiner beiden letzten Romane in kleine Provinzstädte. Die Mehrzahl der Handlungsträger in den Dämonen reist von außerhalb an, einige sogar von Amerika her. Naturgemäß aber findet in Dostojewskis Romanen kein geordnetes Landleben mit Saat, Ernte, Jagd und Obsteinkochen statt, so daß wir ihn im weiteren außer Acht lassen können, ebenso wie angesichts seiner satirischen Haltung auch Gogol. Bei Tschechow sind es Theaterverpflichtungen auf der einen Seite und Gesundheitsgründe auf der andern, die ihn zwischen den Metropolen und den Kurorten auf der Krim und im Ausland hin- und herreisen lassen, die Handlungsorte seiner Erzählungen folgen ihm. Nabokow hat den Verlust des Paradieses im zaristischen Rußland, sein Jasnaja Poljana, nie verschmerzt, so wie er durch die Ausgewanderten geistert, mal in der Schweiz, mal in Amerika, scheint er noch immer auf der Suche zu sein. Sebald trifft mit Tschechow in der Kurstation Badenweiler zusammen, am 9. Juni des Jahres 1904 nach dem julianischen Kalender, am 22. Juni nach unserer Zeitrechnung, im letzten Augenblick sozusagen, fast war es schon zu spät.
Ganz im Geiste Tolstois beginnt Sebald sein Prosawerk, indem er in den Napoleonischen Krieg ausrückt, allerdings nicht an der Seite des Fürsten Andrej, sondern als Begleiter Stendhals, der, in bescheidenem Umfang, auf der gegnerischen Seite das blutige Handwerk ausgeübt hatte. Der Reisende Selysses ähnelt dann mehr Tschechow, zumal er, wie ausdrücklich betont, aus gesundheitlichen Gründen unterwegs ist, um über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen. Auch Sebalds Literatur ist durch den Wechsel von Stadt und Land geprägt. Die Englische Wallfahrt findet ganz im ländlichen Raum statt, Ritorno in patria führt zurück ins Heimatdorf nahe der Alpen. Ein Jugendphoto zeigt Sebald auf einer landwirtschaftlichen Zugmaschine, Hinweise auf eine besondere Neigung zu Ackerbau und Viehzucht finden sich im Werk aber nicht.
An die Stelle des Landguts ist der landwirtschaftliche Großbetrieb getreten. In Berührung mit dem modernen großflächigen Landbau kommt Selysses im Gespräch mit dem Holländer Cornelis de Jong, der sich mit dem Gedanken trägt, in Suffolk eine der riesigen, oft mehr als tausend Hektar umfassenden Liegenschaften zu erwerben, wie sie dort nicht selten von den Immobilienagenturen ausgeschrieben werden. Aufgewachsen in der Nähe von Surabaya, will er nun die Familientradition als Zuckerrübenbauer in England fortsetzen. Zusammenhängende Güter von der Größe, wie sie in East Anglia immer wieder zum Verkauf stünden, gelangten zu Hause überhaupt nie auf den Markt, und Herrenhäuser, wie man sie hier bei der Übernahme einer Domäne praktisch umsonst mitgeliefert bekomme, seien in Holland auch nicht zu finden. Selysses’ Gesprächsanteile werden, wie üblich, weitgehend unterschlagen, ein übermäßiges Interesse am Zuckerrübenbau in seiner neuzeitlichen industrialisierten Form darf man so oder so aber nicht unterstellen. Der Dichter Sebald jedenfalls läßt sowohl im Werk als auch im Gespräch verschiedentlich wissen, daß er zur europäischen Agrarpolitik ungefähr die gleiche Meinung hat wie zur der Hochschulreform der Baronin Thatcher. Auch freut es ihn nicht, daß die Bauern im Allgäu jetzt ein Schweinegeld verdienen, offenbar fühlt er sich um die Heimat seiner Literatur der Armut betrogen. Allerdings schneidet auch schon in der Zeit der Bescheidenheit die Bauernschaft nicht gut ab. Beim Ritorno in patria und in die Vergangenheit der Ortschaft W. kommen von den Bewohnern so gut wie nur die Gewerbetreibenden zu Wort, die Bauern hocken bis tief in die Nacht hinein in der Wirtschaft und trinken, vor allem im Winter, oft bis zur Besinnungslosigkeit.
Selysses ist weit entfernt ein begeisterter Schnitter zu sein wie Nikolaj Lewin in der berühmten Textstelle aus Anna Karenina. Längst auch ist Handmähen im großen Stil nicht mehr Teil der Landwirtschaft und allenfalls noch als organisierter Freizeitevent denkbar. Auch die Teilnahme des Gutsbesitzers Lewin an der Mahd hat, entgegen dem, was er selbst denkt, bereits etwas neuzeitlich Sportliches. Die literarische Aufgabe eines Gutsbesitzers ist es, ein eher beschäftigungsloses, unbestimmtes und auf rätselhafte Weise erfülltes Leben zu verkörpern. Als es an einer Stelle heißt, Fürst Andrej habe drei Jahre auf seinem Gut verlebt, ohne es auch nur einmal zu verlassen und ohne daß wir erfahren, wie seine Tage verlaufen, erfaßt uns eine tiefe Sehnsucht. Einen Eindruck von dem stillen Leben vermittelt uns noch Józef Korzeniowski, als er sich aufmacht, den Onkel Tadeusz auf seinem Landgut in der Ukraine zu besuchen. Acht Fahrstunden im Schlitten sind es noch von der Bahnstation bis nach Kazimierowska. Nie ist er besser gefahren als damals in die sich ausbreitende Dunkelheit hinein. Wie früher, vor langer Zeit sah man die Sonne über die Ebene sich senken. Eine große, rote Scheibe, senkte sie sich in den Schnee, als ginge sie unter über dem Meer. Geschwind fuhr der Schlitten in die nun einbrechende Dunkelheit hinein, in die unermeßliche, an den Sternenhimmel angrenzende weiße Wüste, in der wie Schatten die von Bäumen umstandenen Dörfer trieben.
Die russische Erzählliteratur des neunzehnten Jahrhunderts verdankt einen nicht geringen Teil ihres Zaubers dem ständigen Wechsel von Stadt und Land zum einen und von Inland und Ausland zum anderen. Das Ausland freilich, weil kein Rechtgläubiger, und sei es ein Renegat, je daran denkt, dort auf Dauer zu bleiben, erscheint als bloße Umgebung des einzigen Rußlands. Das Personal in Tolstois zwei großen Romanen, Anna Karenina und Krieg und Frieden, verfügt zum großen Teil über Häuser in Moskau und Petersburg und über Güter auf dem Land, mal ist man hier und mal ist man dort. Dostojewski beginnt als Großstadtdichter und verlegt die Handlung seiner beiden letzten Romane in kleine Provinzstädte. Die Mehrzahl der Handlungsträger in den Dämonen reist von außerhalb an, einige sogar von Amerika her. Naturgemäß aber findet in Dostojewskis Romanen kein geordnetes Landleben mit Saat, Ernte, Jagd und Obsteinkochen statt, so daß wir ihn im weiteren außer Acht lassen können, ebenso wie angesichts seiner satirischen Haltung auch Gogol. Bei Tschechow sind es Theaterverpflichtungen auf der einen Seite und Gesundheitsgründe auf der andern, die ihn zwischen den Metropolen und den Kurorten auf der Krim und im Ausland hin- und herreisen lassen, die Handlungsorte seiner Erzählungen folgen ihm. Nabokow hat den Verlust des Paradieses im zaristischen Rußland, sein Jasnaja Poljana, nie verschmerzt, so wie er durch die Ausgewanderten geistert, mal in der Schweiz, mal in Amerika, scheint er noch immer auf der Suche zu sein. Sebald trifft mit Tschechow in der Kurstation Badenweiler zusammen, am 9. Juni des Jahres 1904 nach dem julianischen Kalender, am 22. Juni nach unserer Zeitrechnung, im letzten Augenblick sozusagen, fast war es schon zu spät.
Ganz im Geiste Tolstois beginnt Sebald sein Prosawerk, indem er in den Napoleonischen Krieg ausrückt, allerdings nicht an der Seite des Fürsten Andrej, sondern als Begleiter Stendhals, der, in bescheidenem Umfang, auf der gegnerischen Seite das blutige Handwerk ausgeübt hatte. Der Reisende Selysses ähnelt dann mehr Tschechow, zumal er, wie ausdrücklich betont, aus gesundheitlichen Gründen unterwegs ist, um über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen. Auch Sebalds Literatur ist durch den Wechsel von Stadt und Land geprägt. Die Englische Wallfahrt findet ganz im ländlichen Raum statt, Ritorno in patria führt zurück ins Heimatdorf nahe der Alpen. Ein Jugendphoto zeigt Sebald auf einer landwirtschaftlichen Zugmaschine, Hinweise auf eine besondere Neigung zu Ackerbau und Viehzucht finden sich im Werk aber nicht.
An die Stelle des Landguts ist der landwirtschaftliche Großbetrieb getreten. In Berührung mit dem modernen großflächigen Landbau kommt Selysses im Gespräch mit dem Holländer Cornelis de Jong, der sich mit dem Gedanken trägt, in Suffolk eine der riesigen, oft mehr als tausend Hektar umfassenden Liegenschaften zu erwerben, wie sie dort nicht selten von den Immobilienagenturen ausgeschrieben werden. Aufgewachsen in der Nähe von Surabaya, will er nun die Familientradition als Zuckerrübenbauer in England fortsetzen. Zusammenhängende Güter von der Größe, wie sie in East Anglia immer wieder zum Verkauf stünden, gelangten zu Hause überhaupt nie auf den Markt, und Herrenhäuser, wie man sie hier bei der Übernahme einer Domäne praktisch umsonst mitgeliefert bekomme, seien in Holland auch nicht zu finden. Selysses’ Gesprächsanteile werden, wie üblich, weitgehend unterschlagen, ein übermäßiges Interesse am Zuckerrübenbau in seiner neuzeitlichen industrialisierten Form darf man so oder so aber nicht unterstellen. Der Dichter Sebald jedenfalls läßt sowohl im Werk als auch im Gespräch verschiedentlich wissen, daß er zur europäischen Agrarpolitik ungefähr die gleiche Meinung hat wie zur der Hochschulreform der Baronin Thatcher. Auch freut es ihn nicht, daß die Bauern im Allgäu jetzt ein Schweinegeld verdienen, offenbar fühlt er sich um die Heimat seiner Literatur der Armut betrogen. Allerdings schneidet auch schon in der Zeit der Bescheidenheit die Bauernschaft nicht gut ab. Beim Ritorno in patria und in die Vergangenheit der Ortschaft W. kommen von den Bewohnern so gut wie nur die Gewerbetreibenden zu Wort, die Bauern hocken bis tief in die Nacht hinein in der Wirtschaft und trinken, vor allem im Winter, oft bis zur Besinnungslosigkeit.
Selysses ist weit entfernt ein begeisterter Schnitter zu sein wie Nikolaj Lewin in der berühmten Textstelle aus Anna Karenina. Längst auch ist Handmähen im großen Stil nicht mehr Teil der Landwirtschaft und allenfalls noch als organisierter Freizeitevent denkbar. Auch die Teilnahme des Gutsbesitzers Lewin an der Mahd hat, entgegen dem, was er selbst denkt, bereits etwas neuzeitlich Sportliches. Die literarische Aufgabe eines Gutsbesitzers ist es, ein eher beschäftigungsloses, unbestimmtes und auf rätselhafte Weise erfülltes Leben zu verkörpern. Als es an einer Stelle heißt, Fürst Andrej habe drei Jahre auf seinem Gut verlebt, ohne es auch nur einmal zu verlassen und ohne daß wir erfahren, wie seine Tage verlaufen, erfaßt uns eine tiefe Sehnsucht. Einen Eindruck von dem stillen Leben vermittelt uns noch Józef Korzeniowski, als er sich aufmacht, den Onkel Tadeusz auf seinem Landgut in der Ukraine zu besuchen. Acht Fahrstunden im Schlitten sind es noch von der Bahnstation bis nach Kazimierowska. Nie ist er besser gefahren als damals in die sich ausbreitende Dunkelheit hinein. Wie früher, vor langer Zeit sah man die Sonne über die Ebene sich senken. Eine große, rote Scheibe, senkte sie sich in den Schnee, als ginge sie unter über dem Meer. Geschwind fuhr der Schlitten in die nun einbrechende Dunkelheit hinein, in die unermeßliche, an den Sternenhimmel angrenzende weiße Wüste, in der wie Schatten die von Bäumen umstandenen Dörfer trieben.
In Irland sollen zur Zeit des Bürgerkriegs insgesamt zwei- bis dreihundert Herrenhäuser niedergebrannt worden sein. Mancher mag in der im strengen Sinne nutzlosen, antiutilitaristischen Lebensweise der Ashburys eine bloße Karikatur der Gutsbesitzerexistenz sehen, Selysses sieht es anders, und es liegt wie ein Schatten auf seiner Seele, daß er nicht geblieben ist, um ihr Tag für Tag unschuldiger werdendes Leben zu teilen. Hier hätte er seine Sehnsucht stillen können, sich mit nichts anderem zu beschäftigen als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit, und in gleicher Weise beschäftigt können wir uns auch den Fürsten Andrej vorstellen während der drei Jahre, die er bezwyjezdno auf dem Familiengut verbringt.
Ende September erhielt ich aus dem Verkauf der Liegenschaft Oelling einen größeren Geldbetrag, von dem ich selbst keinen Gebrauch machen, den ich aber sogleich einem guten Zweck zuführen wollte. Gleichzeitig war ich fest entschlossen, ganz Wolfsegg, wie es liegt und steht, und alles Dazugehörende, der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien anzubieten: Das Treffen mit den Russen wurde weitgehend hinter dem Rücken des Dichters arrangiert, auf Thomas Bernhard mag er beim Motiv der großen Landgüter geschaut haben. Die Schwindel.Gefühle setzen zwar im Jahre 1800 ein, haben aber vor allem das Jahr 1913 und das Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Sinn. 1910 hatte Tolstoi sein Gut verlassen, und im Oktober 1917 hatte die Glocke für alle russischen Grundbesitzer geschlagen. Für die Orientierung im zwanzigsten Jahrhundert greift Sebald die von Bernhard geschätzte Aktion der Wegschenkung nicht auf, sondern bevorzugt andere Formen der Aufgabe und des Verfalls von Landgütern. Wyndham Le Strange, wie Fürst Andrej aus dem Krieg zurück, verschenkt seine Güter nicht, legt sie aber sozusagen still. Nach und nach entläßt er das Hauspersonal ebenso wie die Landarbeiter, Gärtner und Verwalter, so daß infolgedessen das ganze Gut, die Gartenanlagen und der Park zusehends verwilderten und verfielen und die brachliegenden Felder von ihren Rändern her zuwuchsen mit Strauchwerk und Gestrüpp. Die Überschreibung des gesamten Besitzes nach dem Tode an die Haushälterin Florence Barnes kommt einer Wegschenkung nahe, ausdrücklich fehlt aber das Element eines öffentlichen guten Zwecks.
Ende September erhielt ich aus dem Verkauf der Liegenschaft Oelling einen größeren Geldbetrag, von dem ich selbst keinen Gebrauch machen, den ich aber sogleich einem guten Zweck zuführen wollte. Gleichzeitig war ich fest entschlossen, ganz Wolfsegg, wie es liegt und steht, und alles Dazugehörende, der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien anzubieten: Das Treffen mit den Russen wurde weitgehend hinter dem Rücken des Dichters arrangiert, auf Thomas Bernhard mag er beim Motiv der großen Landgüter geschaut haben. Die Schwindel.Gefühle setzen zwar im Jahre 1800 ein, haben aber vor allem das Jahr 1913 und das Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Sinn. 1910 hatte Tolstoi sein Gut verlassen, und im Oktober 1917 hatte die Glocke für alle russischen Grundbesitzer geschlagen. Für die Orientierung im zwanzigsten Jahrhundert greift Sebald die von Bernhard geschätzte Aktion der Wegschenkung nicht auf, sondern bevorzugt andere Formen der Aufgabe und des Verfalls von Landgütern. Wyndham Le Strange, wie Fürst Andrej aus dem Krieg zurück, verschenkt seine Güter nicht, legt sie aber sozusagen still. Nach und nach entläßt er das Hauspersonal ebenso wie die Landarbeiter, Gärtner und Verwalter, so daß infolgedessen das ganze Gut, die Gartenanlagen und der Park zusehends verwilderten und verfielen und die brachliegenden Felder von ihren Rändern her zuwuchsen mit Strauchwerk und Gestrüpp. Die Überschreibung des gesamten Besitzes nach dem Tode an die Haushälterin Florence Barnes kommt einer Wegschenkung nahe, ausdrücklich fehlt aber das Element eines öffentlichen guten Zwecks.
Cosmo Solomon ist vor allem daran gelegen, an Plätzen wie Saratoga Springs und Palm Beach ungeheure Mengen von Geld durchzubringen, ein Bemühen, das er mit vielen russischen Gutsbesitzern in später Generation teilt. Als Bewohner des großen, am Rock Point auf der äußersten Spitze von Long Island gelegenen, auf drei Seiten von Wasser umgebenen Familienbesitzes sehen wir ihn erst zuallerletzt, im obersten Stock des Hauses in einem der seit vielen Jahren versperrten Kinderzimmer. Mit bewegungslos herabhängenden Armen stand er da und starrte hinaus auf das Meer, wo manchmal, sehr langsam, die Dampfschiffe vorbeifuhren nach Boston oder Halifax.
Auch ohne Brandstiftung schwinden die Herrenhäuser in England noch schneller dahin als in Irland, in den fünfziger Jahren wurde durchschnittlich alle zwei bis drei Tage eines demoliert, wie Austerlitz berechnet hat. Iver Grove aber schien, von außen zumindest, weitgehend unversehrt. Nichtsdestotrotz war es, als sei das Haus erfaßt von einem stummen Entsetzen über das ihm bald bevorstehende, schandbare Ende. Drinnen, in einem der großen Empfangsräume zu ebener Erde, war Korn aufgeschüttet wie auf einer Tenne, in einem zweiten, mit barocker Stukkatur verzierten Saal lehnten Hunderte von Kartoffelsäcken nebeneinander. Die Kosten für eine auch nur notdürftige Instandsetzung des Familienbesitzes, der während der Kriegsjahre als Rekonvaleszentenheim requiriert gewesen war, hatten die Mittel des Eigentümers bei weitem überstiegen, so daß er sich folglich hatte entschließen müssen, in die am anderen Ende des Parks gelegene und zum Gut gehörige Grove Farm überzusiedeln.
Die Herrschaft Somerleyton, die sich während des hohen Mittelalters im Besitz der FitzOsberts und der Jernegans befand, ist im Verlauf der Jahrhunderte durch eine Reihe, sei es durch Heirat, sei es durch Blut miteinander verbundener Familien gegangen, bevor die gesamte Liegenschaft schließlich an einen Sir Morton Peto veräußert wurde, der, aus niedrigsten Verhältnissen stammend, gerade erst dreißig, zu den bedeutendsten Unternehmern und Spekulanten seiner Zeit zählte. Auf den heutigen Besucher macht das von ihm errichtete Bauwerk nicht mehr den Eindruck eines morgenländische Märchenpalasts. Die gläsernen Wandelgänge und das Palmenhaus sind nach einer Gasexplosion ausgebrannt und anschließend abgerissen worden, die Bediensteten, die alles instand hielten, seit langem entlassen. Im Gegensatz zu dem allmählich verdämmernden Haus sind die Anlagen, die es umgeben erst jetzt auf dem Höhepunkt ihrer Evolution. Die Bäume füllen nun auch den Luftraum über dem Garten aus, und die von den damaligen Besuchern bereits bewunderten Zedern, von denen einige ihre Astwerk über nahezu einen Viertelmorgen ausbreiten, sind inzwischen ganze Welten für sich. Die Besucher dampfen jetzt mit einem Miniaturbähnchen durch die Felder dahin. Zuvorderst auf dem kleinen Zug sitzt, mit umgehängter Billettasche als Schaffner und Lokomotivführer der jetzige Lord Somerleyton, Her Majesty’s, The Queen’s Master of the Horse.
Auch Sebalds Erzählwelt kennt die helle Lichtung, Jasnaja Poljana, es ist der Landsitz der Fitzpatricks. Am Bahnhof von Abermaw holte Adela uns ab mit dem lackierten Wägelchen, und dann dauerte es nur noch eine halbe Stunde, also längst nicht die Zeit der Schlittenfahrt nach Kazimierowska, bis der Kies der Einfahrt von Andromeda Lodge unter den Rädern knirschte. Die Aussicht aus meinem Zimmer mit dem blauen Plafond grenzte wahrhaft ans Überwirkliche. In einem perlgrauen Dunst lösten sämtliche Farben sich auf; es gab keine Kontraste, keine Abstufungen mehr, nur noch fließende, vom Licht durchpulste Übergänge. Nicht selten, am Ende der langen Sommertage, spielten wir Badminton in dem seit der Kriegszeit ausgeräumten Ballsaal, und Adela schwebte viel länger oft, als die Schwerkraft es erlaubte, ein paar Spannen über dem Parkettboden in der Luft. Es ist Adela die die Stimmung von Andromeda Lodge vorgibt. Denkt man von Andromeda Lodge aus an Anna Karenina, so nicht an die männliche Szene von Lewins Mahd, sondern an ihr weibliches Pendant, die ebenso berühmte Szene mit der wie Adela so leichten und lichtvollen Kitty und den anderen Damen beim Obsteinkochen auf der Veranda des Gutshauses. Obsteinkochen ist zugegebenermaßen eine bodenständigere Beschäftigung als das Spiel mit dem Federball. Levitation war nicht Tolstois Stilideal, verlassen wir den Boden bei der Lektüre, weil uns das Herz leicht wird, müssen wir es vor ihm verheimlichen. Wie Selysses bei den Ashburys wird Austerlitz sich gefragt haben, warum er nicht geblieben ist. Unvergeßlich ist ihm Adelas Frage geblieben: Siehst du die Wipfel der Palmen und siehst du die Karawane, die dort durch die Dünen kommt?
Adela hat Andromeda Lodge dann verkauft und ist mit einem Entomologen namens Willoughby nach North Carolina gegangen, der unwirkliche Glanz über der hellen Lichtung ist erloschen.
Adela hat Andromeda Lodge dann verkauft und ist mit einem Entomologen namens Willoughby nach North Carolina gegangen, der unwirkliche Glanz über der hellen Lichtung ist erloschen.
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