Montag, 20. Mai 2013

Bilder wie Boote

Onze

Ein Bild des Meisters der Ursulalegende zeigt die Heilige samt ihrem Gefolge beim Anlegen des Schiffes in Basel. Ursula selbst und ihre engsten Vertrauten, Cordula, Aukta und Odilia, haben das Boot schon verlassen und betreten den Kai, auf dem eine Klerikerdelegation sie erwartet. Die Kunde von der in der Tat auffälligen Reise und der zu erwartenden Ankunft der 11001 Jungfrauen war offenbar schon vorausgeeilt. Die theologische Forschung hat die in der Urfassung der Ursulalegende genannte abnorm hohe Zahl später in Zweifel gezogen und geht jetzt überwiegend von einem Übermittlungsfehler und, nach dessen Bereinigung, von einem Gefolge von nur elf jungen Damen und damit, die Heilige wiederum hinzugezählt, zwölf Ursulinen aus. Das Bild des Kölner Malers läßt in jedem Fall beide Zählweisen zu. Es zeigt acht weibliche Reisende, vier weitere, oder aber, nach alter Lesart: 10993 (zehntausendneunhundertdreiundneunzig) weitere Ursulinen, bleiben, ebenso wie die Schiffsbesatzung – die Jungfrauen selbst waren kaum manövrierfähig, schon die Kleidung schließt seemännische Kompetenz im Grunde aus -, hinter dem linken Bildrand verborgen. Während die acht frommen Damen mehr oder weniger gleichen Wuchses sind, besteht das ebenfalls acht Personen zählende Empfangskomitee aus drei voll ausgewachsenen und fünf eher gnomenhaft verkümmerten geistlichen Herren.
Das Bild bietet uns auf den ersten Blick eine aufgeräumte, wohlanständige Welt dar, kein Gedanke an gewaltsame Entjungferung, geschweige denn an eine den Märtyrerinnenstatus sichernde Entleibung. Bei näherem Hinsehen aber fällt die völlige Leere der Stadt Basel auf, so als seien Etzels Horden bereits hinweggegangen über die Stadt. Die geistlichen Herren scheinen die einzigen Überlebenden zu sein, und die Hunnenschar rüsteten sich nun im Verborgenen, um über die Jungfrauen herzufallen. Druf geschieht so viel, i ha jez nit der Zit; und endli zündet’s a, und brennt und brennt, wo boden isch, und niemes löscht.

Von der Gesamtzahl der geistlichen Personen und der strikten Trennung der Geschlechter her ähnelt das Bild Grünewalds Altarbild von den Nothelfern in der Pfarrkirche von Lindenhardt, auf dem die drei Nothelferinnen hinter dem Rücken des heiligen Georg ihre gleichförmigen orientalischen Köpfe zu einer Verschwörung gegen die Männer zusammenstecken. Ein Boot, das zu verlassen wäre, gibt es nicht, Georg aber steht am Bildrand eine Handbreit über der Welt und wird gleich über die Schwelle des Rahmens wie über eine Reling treten. Er kommt auf uns zu, außer den Bildbetrachtern erwartet ihn keine andere Delegation. Er geht wortlos an uns vorbei, später treffen wir ihn wieder als San Giorgio in einem Bild Pisanellos in der Kapelle der Pellegrini im Seitenschiff der Kirche Sant' Anastasia zu Verona. Auch dieses Bild wird er samt der Prinzessin von Trapezunt schon bald wieder verlassen, um gegen den Drachen zu ziehen, in Begleitung von sieben Berittenen, darunter ein kalmückischer Bogenschütze. Und wieder treffen wir ihn auf einem anderen Bild auf der Fahrt durch das Leben, der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben ausgehaucht, der Ritter, von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht, mit einem Strohhut auf dem Kopf, ohne den geringste Schatten der Schuldhaftigkeit, ist bereit für die neuzeitliche Zivilgesellschaft. Er bleibt gleichwohl fremd in dieser Welt, und als George Le Strange muß er den Helm des Kriegers erneut aufsetzen, der anschließende Rückzug ins Private ist dann radikal. Ein letztes Mal treffen wir den demissionierten Ritter als Giorgio Santini, Teil unseres demokratischen Gemeinwesens, als Hochseilartist und Levitationskünstler wie Sebald aber doch randständig.

Pierre Michon zielt mit seinem Buchtitel Les Onze nicht auf die Ursulinen und mischt sich in den Streit der großen und kleinen Zahlen nicht ein. Seine Elf sind: Billaud, Carnot, Prieur, Prieur, Couthon, Robespierre, Collot, Barère, Lindet, Saint-Just, Saint-André: les Commissaires, le Grand Comité de la Grande Terreur, die Hunnen der Aufklärung in unserer Mitte, tous ensemble, en bonne séance fraternelle, comme des frères. Es handelt sich in der Darstellung Michons bei den Mitgliedern des Komitees samt und sonders um gescheiterte oder allenfalls maßvoll erfolgreiche Literaten mit Ausnahme von - da es immer eine Ausnehme geben muß – Jeanbon Saint-André, der weiter nicht geschrieben hat. Robespierre wird ausdrücklich jede Kommentierung verweigert. Der besseren Übersicht halber hat Michon die elf Kommissare an Bord eines Bildes verfrachtet, das es nicht gibt, gemalt von einem Maler, den es nicht gegeben hat. Über beide, das Bild und mehr noch den Maler, werden wir gleichwohl detailliert ins Bild gesetzt. Billaud, l’habit de pékin et les bottes; Carnot, la houpellande, l’habit de pékin et les bottes; Prieur de la Côte-d’Or, à la nation, plumet sur la tête; Prieur de la Marne, à la nation, le plumet sur la table; Couthon, l’habit de pékin et les inutiles souliers à boucle sur les pieds de paralytique, dans la chaise de soufre; Robespierre, l’habit de pékin et les souliers à boucle; Collot, la houpellande, l’habit de pékin et les bottes, pas de cravate; Barère, l’habit de pékin et les souliers à boucle; Lindet l’habit de pékin et les souliers à boucle; Saint-Just, l’habit de l’or; Jean Bon Saint-André, à la nation, le plumet à la main.
Die Absicht der Auftraggeber, die Robespierre und seine beiden engen Vertrauten in die Mitte des Bildes beordert hatten, war taktisch-politisch und hatte zwei Möglichkeiten im Sinn. Falls Robespierre dauerhaft reüssierte, sollte das Bild seinen Personenkult begründen, falls er scheiterte, sollte er, um den Gang zur Guillotine zu beschleunigen, öffentlich als Auftraggeber des Bildes und Selbstbegründer seines Personenkults entlarvt werden. Die Auftragserteilung ist aber Teil des Gesamterfindung des Autors, was hatte er im Sinn, als der die Elf ins Bild verfrachtete?

Das Bild der Elf ist an einem Vorzugsort im Louvre untergebracht als überragendes Zeugnis der Geschichte, aber auch als überragendes Kunstwerk. Der Maler, François-Èlie Corentin - sein Vater auch ein gescheiterter Literat -, ist ein Schüler Tiepolos, dem Mozart der Malerei, wie es heißt, und ihm ebenbürtig als der Tiepolo de la Terreur. Die Gestaltungsabsicht des Autors kann sich kaum auf eine fiktive Bereicherung des Louvre und des kulturellen Erbes Frankreichs beschränkt haben. Erfaßt ist eine Zeitspanne, une période qui est comme le comble de l’Histoire, et que par conséquent on appelle très justement la Terreur, une fin d’hiver, un printemps et le début de l’été, depuis la neige de nivôse jusqu’à la main chaude de thermidor. Besteht nicht das Verlangen, die Verbindung von comble et terreur, von historischem Höhepunkt und Höhepunkt des Versagens und der Schande aufzulösen, die Protagonisten des Terrors einzusperren in ein Bild wie auf ein Gefängnisschiff, so daß eine freigegebene Geschichte unbehelligt daran vorbeiziehen möge. Eine Läuterung der Inoklasten – ein Glück nur, wenn die Werke des Malers der Ursulalegende vor ihnen gerettet werden konnten – durch die Sicherheitsverwahrung im Kunstwerk ist nicht zu erwarten, der Gedanke an Resozialisierung entfällt.

Sebald hat Rousseau auf der Peterinsel besucht und Napoleon auf Korsika, wo er dann schnell die Lust an ihm verloren hat, den genauen Punkt, als, kaum daß die Vernunft am Ruder stand, allenthalben auch schon das Fallbeil zu hören war, quarante têtes par jour, hat er gemieden und sich, auf eine verborgene Weise, an den mythischen, von Schuldhaftigkeit freien Frühaufklärer Georgius Miles gehalten und ihm ein wechselvolles Leben bis in unsere Tage verliehen.

Zwei Bilder und eine Bildserie also. Die Ursulinen können das Schiff verlassen aber nicht das Bild, auch der Märtyrerinnentod führt sie nicht heraus aus dem mittelalterlichen Rahmen, begründet er doch vielmehr erst ihre Bildberechtigung. Der heilige Georg wagt als erster den mutigen Schritt, springt dann zunächst von Bild zu Bild, ähnlich jemandem, dessen Boot am Steg in dritter Reihe lag, bevor er endgültig den festen Boden der Realität betritt. Daß es ihm dort nur wohl erginge, läßt sich nicht behaupten. Les Onze werden nach ihrer wahrhaft ruchlosen Schändung des realen Geschichtsverlaufs rückversetzt ins Bild, gut möglich, daß auch Georg zu diesem Zeitpunkt sich zurückgesehnt hat nach der Heimat im Kunstwerk.

Michon verlegt Corentins Geburtsort, als Fiktion innerhalb der Fiktion, in Tiepolos Deckenausmalung der Würzburger Residenz, précisément sur le mur sud de la Kaisersaal, dans le cortège des noces de Frédéric Barberousse. Il est le page qui porte la couronne du Saint Empire sur un coussin à glands d’or; on voit sa main sous le coussin, son visage un peu penché regarde la terre. Sebald hat sich schon als Kind, verkleidet als Max Aurach, für Tiepolos Würzburger Malereien nicht weniger begeistert. Ich starrte an der Seite des Onkels mit verrenktem Hals in die für mich zu jener Zeit bedeutungslose Pracht des Deckengemäldes von Tiepolo empor, wo unter einem bis in die höchsten Höhen sich aufwölbenden Himmel die Tiere und Menschen der vier Weltgegenden in einem phantastischen Leibergetümmel versammelt sind. Seltsamerweise sei der in Würzburg verbrachte Nachmittag ihm vor wenigen Monaten erst wieder in den Sinn gekommen, als er beim Durchblättern eines neuerschienenen Bildbands über das Werk Tiepolos lange sich nicht habe losreißen können von den Reproduktionen der monumentalen Würzburger Freskomalerei, von den darin dargestellten hellen und dunklen Schönheiten, von dem knienden Mohr mit dem Sonnenschirm und der wunderbaren Amazonenheldin mit dem Federputz auf dem Kopf. Einen ganzen Abend bin ich über diesen Bildern gesessen und habe versucht, mit einem Vergrößerungsglas tiefer und tiefer in sie hineinzusehen. François-Èlie Corentin hatte ich schon bald ohne große Mühe erkannt.

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