Dienstag, 14. Mai 2013

Verborgenheit

Aquarellskizzen

Ein Hund warf sich an ein grüngestrichenes eisernes Gartentor, völlig außer sich, als sei er um seinen Verstand gekommen. In immer neuen Anläufen rannte das Tier gegen das Gitter. Vielleicht hätten wir das Tier einfach auslassen sollen. – Jeder Hundebesitzer weiß, und die anderen können es bei Thomas Mann nachlesen, daß der Hund nach dem Öffnen der Tür möglicherweise wie verwandelt gewesen und freundlich auf die Passanten zugekommen wäre. Das Verhaltensrepertoire der Menschen unterscheidet sich von dem der Hunde, und als der junge Sebald Sternheim und Döblin vorübergehen sah, hat sich Sanftmut nicht eingestellt.
Langsam öffnete es sein von hellen Wimpern umsäumtes Auge und blickte mich fragend an. Ich fuhr ihm mit der Hand über den Rücken, strich ihm über das Gesicht und kraulte ihn hinter dem Ohr, bis er aufseufzte wie ein von endlosen Leiden geplagter Mensch. – Die meisten Leser sind froh, wenn sie die Rage der frühen Untersuchungen hinter sich lassen und in die freundliche Wärme des Landhauses eintreten können. Aber auch wissenschaftsferne Essayistik kann auf insistierendes Räsonnement nicht verzichten, so daß sich der Leser dann doch bald hinaus in die ungebundene Weite der Prosa sehnt.

An den Bildern Jan Peter Tripps sei ihm aufgegangen, so Sebald, wieviel verborgen liegt hinter dem Anschein der Dinge, oder, in der Sprache des Theoretikers: Die Spezifik der Kunstformen beruht darauf, daß die Bestimmung der einen, thematisierten Seite nicht völlig offen läßt, was auf der anderen Seite geschehen kann. Sie determiniert die andere Seite nicht, aber sie entzieht die Bestimmung der anderen Seite dem Belieben. – Und weiter: Kunst macht Wahrnehmung der Kommunikation verfügbar; Wahrnehmung und nicht Räsonnement. Damit ist die Grenze übertreten, und im Bereich der Kunst ist alles anders.
Es scheint, als könne der flüchtige, nicht insistierende Blick die Wahrnehmung des Verborgenen, das Erahnen der anderen Seite begünstigen. Der Wanderer schaut und zieht weiter. Er ist kein kühler Beobachter, sondern ständig von Schwindelgefühlen geplagt, keine zuverlässige Instanz. Die Sonne brach durch den Dunstschleier, und eine Brise strich das Ufer entlang. Die wenigen dunklen Figuren, die Gruppe der Pappelbäume, die Lichtflut über dem Wasser, das waren die Elemente der flüchtigen Aquarellskizze aus dem Jahre 1841 und also aus einer Zeit, in der Turner kaum noch reisen konnte, und wenn irgend etwas aus dem Gedächtnis auftauchte, geschwind mit einigen Pinselstrichen die sogleich wieder zerfließenden Visionen festzuhalten versuchte.

In seinen kritischen Arbeiten hat Sebald immer auf die Person hinter dem Werk geschaut, ein Mißgriff, wie manche meinen mögen, da er dabei der Person im Schlechten oder auch im Guten nach dem Maßstab seiner Prosa zu nahe kommen mußte. Das Prosawerk ist mit Personen bestückt, die nur einmal kurz auftauchen und dann nicht wieder, Empfangsdamen, Mitreisende, Lesegefährten: mit einem Wort Komparsen. Sie haben damit Teil an der Flüchtigkeit, die Sebald an Hebels Werk und Personal rühmt. Vergessen wird man sie aber nicht so leicht, sicher nicht die in einer dunklen Vorhalle der U-Bahn in einer Art Schalterhäuschen sitzende sehr schwarze Negerfrau, auf die wir nur einen einzigen kurzen Blick werfen, bei der sich jeder gleich sicher ist, that there is more to it than meets the eye. Flüchtig sind aber auch die Protagonisten, die einer Erzählung ihren Namen geben, ganz besonders Ambros Adelwarth, den wir eigentlich nie zu Gesicht bekommen und der immer nur in verschiedenen Phasen seines Lebens als Schemen für kurze Zeit in der Erzählung eines Mittelsmanns auftritt und zudem zunehmend durch die Gestalt des Cosmo Solomon verstellt wird.

Ob Cornelis de Jong, Frederick Farrar, Alec Garrad oder Max Aurach: nur sie reden, Selysses, nicht nur Kunstfigur, sondern auch Repräsentant der Kunst, hört zu und gibt wieder, nie urteilt er, nimmt nie eine abweichende Stellung ein, nur so kann das Verborgene erscheinen. Der Venezianer Malachio, eine Zufallsbekanntschaft, Selysses trifft in einer Bar an der Riva, ist vielleicht das schönste Beispiel. Er ist Astrophysiker aus Cambridge und sieht alles aus größter Ferne, läßt die Welt als das All vor uns erscheinen. Sein gegenwärtiges Interesse aber gilt den Fragen der Auferstehung und zumal dem Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. Antworten hat er nicht gefunden, aber ihm reichen die Fragen, die ins Verborgene führen. Er verabschiedet sich mit dem Gruß: Ci vediamo a Gerusalemme, über dessen Sinn Selysses grübelt, ohne daß er die Antwort finden könnte, das Grübeln wird ihm reichen. Dann ist Malachio verschwunden, drei Bücher später taucht sein Widerschein auf in der Gestalt des Gerald Fitzpatrick, ebenfalls Astrophysiker aus Cambridge, nicht den Engeln zugetan, aber anderen Flugsub- und -objekten. Der Theoretiker: Der Reichtum an Möglichkeiten der Kunst beruht auf einer Imitation der Differenzstruktur von Raum und Zeit – aber nicht, wie man lange geglaubt hat, auf einer Imitation der realen Raum/Zeit-Welt.
Eine so nahe am Kern der Kunst gelegene Erzählwelt kann nicht mit Intrigen oder gar den sogenannten wirklichen Sorgen der Menschen belastet werden. In einer holländischen Stadt kommt, durch kein eisernes Gartentor von ihm getrennt, ein morgenländisch aussehender Mensch auf Selysses zugestürzt, das blanke Entsetzen im Antlitz, verfolgt von einem seiner Landsleute dessen Augen geradezu glänzten vor Mordlust und Wut, ein langes, blitzendes Messer in der Hand. Irgendeine Anstrengung, der Mordattacke auf den Grund zu kommen, wird nicht unternommen. Das genrebedingte Erhellen des Verborgenen ist das Leid des Kriminalromans.

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