Mittwoch, 12. Juni 2013

Café arabica

Drama und Idylle


In den Ringen des Saturn wird der Weg der Seide vom fernen China bis nach Europa in den Einzelheiten nachgezeichnet. Die Seide ist längst Teil unseres Lebens aber kaum noch beachtetes Thema im öffentlichen Raum, vielleicht hat der Dichter sich gerade aus diesem Grunde ihr zugewandt. Wenig hat er sich immer um Dinge gekümmert, die den Menschen, wie es heißt, auf den Nägeln brennen. Zu diesen Dingen zählt augenscheinlich der Kaffee, eine andere Gabe des Orients. Bei jedem Einkauf stoßen wir auf neue Kapseln, Säckchen, Mischungen, Zubereitungsformen und -maschinen, sogenannte Größen aus Film und Fernsehen vertreten mit Nachdruck den Wert des einen oder anderen Produkts, in den Innenstädten winken die Kaffeehäuser der verschiedenen Ketten einander über die Straße zu, die Menschen sitzen an den Tischchen drinnen und draußen oder tragen das dunkle Labsal in Pappbechern einher. Über die Art und Weise, wie der Kaffee zu uns kam, unterrichtet uns der Dichter nicht, eine der eindrucksvollsten Szenen des Kaffeeverzehrs in der Weltliteratur überhaupt aber hat er nach Venedig verlegt, der östlichen Stadt Italiens, die für lange Phasen ihrer Geschichte den Blick eher zum Orient als zum Okzident hin gerichtet hatte. Von Venedig aus sind auch Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth zu ihrer Orientreise aufgebrochen
Die Zeitverlorenheit althergebrachter orientalischer Kaffeestuben finden wir nicht im Stehbuffet der Ferrovia, vielmehr werden wir in ein überaus dramatisches Geschehen einbezogen. Als eine Art feste Insel ragte das Buffet heraus aus der wie in einem Ährenfeld schwankenden Menge der Menschen. Aus Leibeskräften mußte man zunächst, wenn man wie ich eines Billets ermangelte, sein Begehren zu den auf erhobenen Posten sitzenden Kassiererinnen hinaufschreien, die nur mit einer Art Schürze bekleidet, mit lockigem Haar und halbgesenkten Blick in völliger Ungerührtheit über den Häuptern der Bittsteller schwebten und willkürlich, wie mir schien, irgendeinen der von den einander durchdringenden und sich überschlagenden Stimmen vorgebrachten Wünsche herausgriffen, sodann den Preis des Verlangten hinausriefen in den Raum und huldvoll und verächtlich zugleich einem das Zettelchen und das Wechselgeld aushändigten. Einmal im Besitz des inzwischen einem schon lebenswichtig erscheinenden Billets mußte man sich in die Mitte der Cafeteria hinüberkämpfen, wo die männlichen Angestellten dieses ungeheuren Gastronomiebetriebs hinter einem kreisförmigen Buffet mit Todesverachtung geradezu dem andrängenden Volk gegenüberstanden und ihre Arbeit mit einer Gelassenheit erledigten, die vor dem Hintergrund der allgemeinen Panik die Wirkung eines zerdehnten Zeitablaufs hervorbrachte. Der Eindruck, daß hier Gericht gehalten wurde über ein korrumpiertes Geschlecht, wurde noch dadurch verstärkt, daß den weißgekleideten, würdevollen Männern, die im Inneren des Kreises offensichtlich auf einer erhöhten Plattform sich befanden, das Buffet nur etwa bis zur Hüfte reichte, den Außenstehenden hingegen bis unter die Schultern, wo nicht gar bis zum Kinn. Mein Cappuccino wurde serviert, und einen Augenblick war mir zumut, als hätte ich mit dieser Auszeichnung den bisher bedeutendsten Sieg meines Lebens errungen.

Man könnte meinen eingeführt zu sein in ein weiteres Bild von Tiepolo oder Pisanello oder eines bisher unbekannten Malers, in dem der Ritter Georg sich für eine neue Aufgabe rüstet, wieder muß er mithilfe der Mächte des Himmels denen der Hölle trotzen, kein Drache ist diesmal zu erlegen, sondern, ungleich schwerer und gefahrvoller, ein Cappuccino zu erringen. Vielleicht hören wir auch eine Oper von Verdi oder einem anderen Tonmeister mit viel Klangaufwand für eine karge Librettostelle, oder wir verfolgen an der Seite Kafkas einen frühen Slapstickfilm, und Buster Keaton schaut nach wilder Schlacht und unerwartetem Sieg ernst und traurig drein, während wir, die Zuschauer, uns vor Lachen schier nicht zu fassen wissen.

War es in Venedig das Drama des Kaffees, so ist es in Limone am Gardasee, fern vom Orient, die Idylle. Das Schreiben ging mir mit einer mich selbst erstaunenden Leichtigkeit von der Hand. Zeile um Zeile füllte ich die Bogen des linierten Schreibblocks. Luciana, die hinter der Theke wirtschaftete, blickte immer wieder aus den Augenwinkeln zu mir herüber und brachte mir, wie ich es erbeten hatte, in regelmäßigen Abständen einen Expreß und ein Glas Wasser. Ab und zu auch ein in eine Papierserviette gewickeltes Toastbrot.

Es ist beruhigend, daß auch Toast serviert wird, war doch nicht auszuschließen, Selysses würde nach dem schlimmen Erlebnis in der Pizzeria Verona auf feste Kost fortan ganz verzichten. Ansonsten und in der Hauptsache aber geht es: nicht um die die große Trophäe in der Gestalt eines Cappuccinis, sondern um die Verabreichung winziger Ristretti in kurzen Zeitabständen. Die schwerelos verstreichende Zeit erhält so ihren Rhythmus. Die Schreibfeder gleitet unbehindert über das Papier, Luciana bleibt beim Servieren meistens eine kurze Weile stehen und knüpft eine kleine Unterhaltung an. Einmal ist es dem Dichter gewesen, als spürte er ihre Hand auf ihrer Schulter. Wie könnte man es sich idyllischer ausmalen.

Aber schauen wir überhaupt aufmerksam genug hin, ist es wirklich eine Idylle oder doch wieder ein Drama, ein verstecktes Drama von Untreue und Verrat. Hat Luciana, Isolde und Brangaene in einer Person, dem Kaffee etwas beigegeben, war sie es, die den Paß mit voller Absicht dem Herrn Doll ausgehändigt hatte, so daß der Padrone sie dann auffordern muß, sich mit Tristan Selysses auf eine Reise zu begeben, die das ehebrecherische Paar ohne Verzug vor den Postenkommandanten Dalmazio Orgiu führt zum Zweck einer frevlerischen Trauung.

Das Drama und die Idylle oder, wenn man es so sehen will, die zwei Dramen sind zu unserem Behagen aufgegossen aus einem aromatischen Nichts, wir verspüren ein großes inneres Vergnügen und eine Belebung, die weit hinausgeht über die des realen Kaffeegenusses und sei es auch bei Starbucks.

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