Vie de la petite morte
Es ist schwer, Pierre Michons Buchtitel Vies minuscules in seiner Bündigkeit ohne Verlust oder willkürliche Anreicherung ins Deutsche zu übersetzen, daher soll auch nicht bemängelt werden, wenn als Titel der deutschen Ausgabe derjenige der letzten der acht Erzählung oder Kapitel gewählt wurde: Leben der kleinen Toten, Vie de la petite morte. Der Sebaldleser möchte ohnehin dem Vorbild deutscher Filmverlage folgen und, den Originaltitel weiter nicht beachtend, sich für Ritorno in patria entscheiden; im Klang des Italienischen wäre, so könnte er ohne viel Grund anführen, bereits die Vorliebe beider Autoren für Tiepolo zu spüren. Beim Betrachten der von ungeschickter Hand gemalten Kreuzwegstationen in der Krummenbacher Kapelle auf dem Weg von Oberjoch in die Heimatortschaft W., sinnt Selysses darüber nach, der anonyme Maler habe sich vielleicht nicht weniger gemüht als Tiepolo, der zu dieser Zeit mit seinen Söhnen Lorenzo und Domenico über die Alpen gezogen war, und nun auf dem Gerüst einen halben Meter unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz an seinem riesigen Weltwunderbild arbeitete. Wenn Tiepolo, wie Michon sagt, der Mozart der Malerei ist, so ist Sebald, trotz eingestandener Vorliebe für Schubert, derjenige, der dem Maler im Feld der Dichtung näher steht, die Deckenmalerei, mit dem Himmel als offenem Fluchtpunkt, kommt seinem Stilideal der Levitation wie kaum etwas sonst entgegen. Leicht und melodiös ineinander verschlungen bewegen sich die Bewohner der Ortschaft W. dahin, die hellen und dunklen Schönheiten, zwar fehlt die wunderbare Amazonenheldin mit dem Federputz auf dem Kopf, aber der Mohr ist dabei: Am unteren Ende der Gasse tauchte ein Fahrzeug auf, wie er zuvor noch nie eins gesehen hatte. Es war eine allseits weit ausladende lila Limousine mit einem hellgrünen Dach. Unendlich langsam und völlig geräuschlos glitt sie heran, und drinnen an dem elfenbeinfarbenen Lenkrad saß ein Neger, der ihm, als er vorbeifuhr, lachend seine gleichfalls elfenbeinfarbenen Zähne zeigte. Da unter unseren Krippenfiguren einer der drei Weisen aus dem Morgenland und zwar derjenige mit dem schwarzen Gesicht, einen lila Mantel mit hellgrünen Besatz trug, stand es für ihn außer Zweifel, daß der Fahrer des Automobils in Wahrheit der König Melchior gewesen ist. Dunkelheit beschränkt sich bei Tiepolo nicht auf die Hautfarbe der Afrikaner, bei der Einreise nach Italien hatte Selysses über Santa Tecla libera Este della peste meditiert, ein Bild Tiepolos, auf dem es in Erdnähe düster zugeht, himmelwärts, über unseren Köpfen allerdings lichtvoll. Michon, durchweg beklemmender und ganz ohne Sebalds Heiterkeit, hat Tiepolos lichtem Bild von der Hochzeit Barbarossas in der Gestalt des François-Èlie Corentin einen dunklen Tiepolo, den Tiepolo de la Terreur entnommen.
Die beiden Freunde Tiepolos treffen sich noch bei einem anderen Maler, einem anderen Bild: On eût dit que les docteurs de La Leçon d’anatomie avaient changé de toile, s’étaient massés dans l’ombre derrièrre l’Alchimiste à sa fenêtre, et emplissaient l’espace habituel de son recueillement de leurs puissantes présences empesées de blanc. Die Ärzte auf Visite haben sich hinter dem Père Foucault versammelt, dem Analphabeten, der sich von ihren Blicken in seiner Seele und seiner Würde seziert fühlt und der sich auf keinen Fall den Blicken der Hauptsstadtärzte stellen will, die allein sein Leben vielleicht retten könnten, – eine philosophische Haltung, die in den Augen des Erzählers mehr Respekt noch verdienen als die Lehrmeinungen des gleichnamigen, von ihm durchaus geschätzten philosophe en vogue et missionaire illustre. Dem Foucault minuscule fühlt er sich verwandt nach seiner Zeit in der Hauptstadt als vom rechten Wege abgekommener, schreibunfähiger Dichter ohne Worte, Worte, die er erst findet nach seiner Rückkehr ins bro gozh zadoù, einige hundert Kilometer südwestlich der Bretagne, im sehr ländlichen Limousin.
Auch Sebald kehrt in seinem Prosaerstling in den ländlichen Raum, allerdings, nach langer Irrfahrt, erst am Ende des Buches und mit gespielter Beiläufigkeit: Eines Nachmittags faßte ich den Entschluß, nach England zurückzukehren, zuvor aber noch auf eine gewisse Zeit nach W. zu fahren, wo ich seit meiner Kindheit nicht mehr gewesen war. Die Rückkehr als kleiner Umweg ohne besondere Bedeutung – wir sollten uns nicht täuschen lassen. Zwar hatte Sebald sich im realen Leben weiter von der Heimat entfernt, zwar hatte er besser Fuß gefaßt in der großen Welt, zur Literatur ist er erst gekommen, als ihm klar war, daß es, nach seinen eigenen Worten, eine Literatur der Armut sein müßte. Die Rückkehr führt in nicht an den aktuellen Ort, wo die Landwirte inzwischen ein Schweinegeld verdienen – Michon spricht, sozusagen von der anderen Seite her, vom deuil de la ruralité -, sondern zu den unscheinbaren Toten seiner Kindheit. Bei beiden Freunden Tiepolos ist das Elternpaar so gut wie abwesend, bei Michon begünstigt dadurch, daß er den familienflüchtigen Vater nicht kennengelernt hat. Der Mutter sind die Vies minuscules gewidmet, gut möglich auch, daß die vielen Anreden an den Leser in Wahrheit Anreden an die Mutter sind, Anreden über uns hinweg an sie, die, unsichtbar, in unserem Rücken steht.
Kaum ein großer Autor hat auf den Weg zurück in die Kindheit verzichtet. Prousts Leser könnten sich allenfalls vorstellen, die Recherche würde nach Combray abbrechen, nicht vorstellbar ist ihnen die Recherche ohne Combray. Wenn Kunst, wenn Dichtung sich im Reich der Wahrnehmung abspielt, dann ist die Kindheit für sie ein unvergleichliches Reservoir unbearbeiteter, sozusagen noch nicht wahrgenommener, beim Aufbruch in die Jugend wie versiegelt zurückgelassener Wahrnehmungen, an deren künstlerischer Erschießung der Dichter zu sich finden kann. Eine auf dem Land verbrachte Kindheit mag dabei gleichsam als eine besonders tiefe, gleichsam verdoppelte Kindheit erscheinen, da sich hier auch schon die einfachste Gegenstände als Schatztruhen erweisen. Das nach dem Verzehr des Seelenwecken am Finger zurückgebliebene Mehl kommt vor wie eine Offenbarung, und noch am Abend desselben Tags gräbt das Kind lang noch mit einem Holzlöffel in der im Schlafzimmer der Großeltern stehenden Mehlkiste, um das dort, wie er meinte, verborgene Geheimnis zu ergründen. Die dörflichen Verhältnisse in Frankreich zu dieser Zeit stellt man sich, zu Recht oder zu Unrecht, sich noch um einiges dörflicher vor. Von der dialektalen Prägung seiner Kindheit hat sich Sebald später deutlich, wenn nicht mit einem gewissen Abscheu losgesagt, andererseits aber immer wieder mit lexikalischen und syntaktischen Alemannismen gespielt. Um einiges weitergehend noch Michon: Cette langue désuète travaille en secret mon texte, certaines sonorités, des ellipses balourdes en sont directement issues. Et quand j’écris, je me parle souvent à moi-même, je me commente, je me moque de moi, je m’approuve ou me désapprouve, en patois. Ce sont ces vieux paysans morts qui, en moi, se défendent opiniâtrement contre le non-être.
Für den athée mal convaincu ist Rückkehr in die Kindheit auch Rückkehr zum sakralen Vokabular, das, weitaus mehr als die profane Sprache der Gottlosen, geeignet ist, eine gottverlassene Welt darzustellen, ce monde privé de grâce depuis l’origine des espèces mortelles. Einer der Höhepunkte des Buches ist die Messe, die ein der Trunksucht verfallener Priester für die Insassen einer Irrenanstalt ließt, crétins et idiots, wie es unverblümt heißt, so wie auch Sebald, die moderne, welterrettende Sprachschulung mißachtend, hartnäckig von Krüppeln, Negern und Zigeunern spricht. Peut-être l’abbé eût-il voulu, comme François d’Assise, parler pour les seuls oiseaux, les loups; car si ces êtres sans langage l’eussent compris, alors il en, eût été sûr: c’eût été que la Grâce le touchait. Corbeaux et sangliers émurent les idiots. Bei Sebald begegnen uns überall die entwurzelten Heiligen, den heiligen Franz hatte Selysses schon mit dem Gesicht nach unten in den Sümpfen von Venedig schwimmen sehen, trifft ihn dann aber wiedererstanden in der Person des demissionierten Majors Le Strange, der, den Menschen gänzlich entfremdet, ständig umschwärmt gewesen ist von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen.
J’étais quai d’Austerlitz, je ne partais pas. Das war noch, bevor Austerlitz sich anschickte, vom Austerlitzbahnhof aus die Suche nach dem Vater fortzusetzen. Ein Jahr jünger als Sebald war Michon drei Jahre vor ihm in Manchester allerdings nur kurz und ohne greifbare Folgen. Je m’envolai pour Manchester, rien n’y fut considérable.
Hat es zunächst den Anschein, als handle es sich um eine Autobiographie, in der der Autor nur als in den anderen gespiegelter Schemen erscheint, tritt er dann doch deutlicher hervor. Eine offenbar länger andauernde Phase im Dunkel von Trunk- und Tablettensucht wird mit einer Art nachsichtigen Schonungslosigkeit gezeichnet, die nicht jedem gefallen muß. Die leichte Eleganz, mit der Sebald als Selysses stets anwesend ist, ohne aber viel von sich preiszugeben, mag man vermissen. Die im engeren Sinne autobiographischen Passagen gewinnen ihren größten Wert in dem Augenblick, wo sie vom Leben und Sterben der anderen überwältigt werden, so während der Messe, die der geistliche Trunkenbold den Schwachsinnigen liest.
Acht Leben, davon zwei Doppelleben, also zehn: Vie d’André Dufourneau, das Leben eines Afrikareisenden; Vie D’Antoine Peluchet, das eines verlorenen Sohns; Vies d’Eugène et de Clara, das Leben der Großeltern väterlicherseits; Vies des frères Bakroot, das Leben zweier ungleichen Brüder; Vie du père Foucault, das Leben eines Analphabeten; Vie de Georges Brandy, das eines der Trunksucht verfallenen Priesters; Vie de Claudette, das einer Geliebten; Vie de la petite morte, das Leben der erstgebornen Schwester Madeleine, es hat kein Jahr gewährt. Que dans mes étes fictifs l’hiver des morts hésite. Que dans le conclave ailé qui se tient aux Cards sur les ruines de ce qui aurait pu être, ils soient.
Es ist schwer, Pierre Michons Buchtitel Vies minuscules in seiner Bündigkeit ohne Verlust oder willkürliche Anreicherung ins Deutsche zu übersetzen, daher soll auch nicht bemängelt werden, wenn als Titel der deutschen Ausgabe derjenige der letzten der acht Erzählung oder Kapitel gewählt wurde: Leben der kleinen Toten, Vie de la petite morte. Der Sebaldleser möchte ohnehin dem Vorbild deutscher Filmverlage folgen und, den Originaltitel weiter nicht beachtend, sich für Ritorno in patria entscheiden; im Klang des Italienischen wäre, so könnte er ohne viel Grund anführen, bereits die Vorliebe beider Autoren für Tiepolo zu spüren. Beim Betrachten der von ungeschickter Hand gemalten Kreuzwegstationen in der Krummenbacher Kapelle auf dem Weg von Oberjoch in die Heimatortschaft W., sinnt Selysses darüber nach, der anonyme Maler habe sich vielleicht nicht weniger gemüht als Tiepolo, der zu dieser Zeit mit seinen Söhnen Lorenzo und Domenico über die Alpen gezogen war, und nun auf dem Gerüst einen halben Meter unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz an seinem riesigen Weltwunderbild arbeitete. Wenn Tiepolo, wie Michon sagt, der Mozart der Malerei ist, so ist Sebald, trotz eingestandener Vorliebe für Schubert, derjenige, der dem Maler im Feld der Dichtung näher steht, die Deckenmalerei, mit dem Himmel als offenem Fluchtpunkt, kommt seinem Stilideal der Levitation wie kaum etwas sonst entgegen. Leicht und melodiös ineinander verschlungen bewegen sich die Bewohner der Ortschaft W. dahin, die hellen und dunklen Schönheiten, zwar fehlt die wunderbare Amazonenheldin mit dem Federputz auf dem Kopf, aber der Mohr ist dabei: Am unteren Ende der Gasse tauchte ein Fahrzeug auf, wie er zuvor noch nie eins gesehen hatte. Es war eine allseits weit ausladende lila Limousine mit einem hellgrünen Dach. Unendlich langsam und völlig geräuschlos glitt sie heran, und drinnen an dem elfenbeinfarbenen Lenkrad saß ein Neger, der ihm, als er vorbeifuhr, lachend seine gleichfalls elfenbeinfarbenen Zähne zeigte. Da unter unseren Krippenfiguren einer der drei Weisen aus dem Morgenland und zwar derjenige mit dem schwarzen Gesicht, einen lila Mantel mit hellgrünen Besatz trug, stand es für ihn außer Zweifel, daß der Fahrer des Automobils in Wahrheit der König Melchior gewesen ist. Dunkelheit beschränkt sich bei Tiepolo nicht auf die Hautfarbe der Afrikaner, bei der Einreise nach Italien hatte Selysses über Santa Tecla libera Este della peste meditiert, ein Bild Tiepolos, auf dem es in Erdnähe düster zugeht, himmelwärts, über unseren Köpfen allerdings lichtvoll. Michon, durchweg beklemmender und ganz ohne Sebalds Heiterkeit, hat Tiepolos lichtem Bild von der Hochzeit Barbarossas in der Gestalt des François-Èlie Corentin einen dunklen Tiepolo, den Tiepolo de la Terreur entnommen.
Die beiden Freunde Tiepolos treffen sich noch bei einem anderen Maler, einem anderen Bild: On eût dit que les docteurs de La Leçon d’anatomie avaient changé de toile, s’étaient massés dans l’ombre derrièrre l’Alchimiste à sa fenêtre, et emplissaient l’espace habituel de son recueillement de leurs puissantes présences empesées de blanc. Die Ärzte auf Visite haben sich hinter dem Père Foucault versammelt, dem Analphabeten, der sich von ihren Blicken in seiner Seele und seiner Würde seziert fühlt und der sich auf keinen Fall den Blicken der Hauptsstadtärzte stellen will, die allein sein Leben vielleicht retten könnten, – eine philosophische Haltung, die in den Augen des Erzählers mehr Respekt noch verdienen als die Lehrmeinungen des gleichnamigen, von ihm durchaus geschätzten philosophe en vogue et missionaire illustre. Dem Foucault minuscule fühlt er sich verwandt nach seiner Zeit in der Hauptstadt als vom rechten Wege abgekommener, schreibunfähiger Dichter ohne Worte, Worte, die er erst findet nach seiner Rückkehr ins bro gozh zadoù, einige hundert Kilometer südwestlich der Bretagne, im sehr ländlichen Limousin.
Auch Sebald kehrt in seinem Prosaerstling in den ländlichen Raum, allerdings, nach langer Irrfahrt, erst am Ende des Buches und mit gespielter Beiläufigkeit: Eines Nachmittags faßte ich den Entschluß, nach England zurückzukehren, zuvor aber noch auf eine gewisse Zeit nach W. zu fahren, wo ich seit meiner Kindheit nicht mehr gewesen war. Die Rückkehr als kleiner Umweg ohne besondere Bedeutung – wir sollten uns nicht täuschen lassen. Zwar hatte Sebald sich im realen Leben weiter von der Heimat entfernt, zwar hatte er besser Fuß gefaßt in der großen Welt, zur Literatur ist er erst gekommen, als ihm klar war, daß es, nach seinen eigenen Worten, eine Literatur der Armut sein müßte. Die Rückkehr führt in nicht an den aktuellen Ort, wo die Landwirte inzwischen ein Schweinegeld verdienen – Michon spricht, sozusagen von der anderen Seite her, vom deuil de la ruralité -, sondern zu den unscheinbaren Toten seiner Kindheit. Bei beiden Freunden Tiepolos ist das Elternpaar so gut wie abwesend, bei Michon begünstigt dadurch, daß er den familienflüchtigen Vater nicht kennengelernt hat. Der Mutter sind die Vies minuscules gewidmet, gut möglich auch, daß die vielen Anreden an den Leser in Wahrheit Anreden an die Mutter sind, Anreden über uns hinweg an sie, die, unsichtbar, in unserem Rücken steht.
Kaum ein großer Autor hat auf den Weg zurück in die Kindheit verzichtet. Prousts Leser könnten sich allenfalls vorstellen, die Recherche würde nach Combray abbrechen, nicht vorstellbar ist ihnen die Recherche ohne Combray. Wenn Kunst, wenn Dichtung sich im Reich der Wahrnehmung abspielt, dann ist die Kindheit für sie ein unvergleichliches Reservoir unbearbeiteter, sozusagen noch nicht wahrgenommener, beim Aufbruch in die Jugend wie versiegelt zurückgelassener Wahrnehmungen, an deren künstlerischer Erschießung der Dichter zu sich finden kann. Eine auf dem Land verbrachte Kindheit mag dabei gleichsam als eine besonders tiefe, gleichsam verdoppelte Kindheit erscheinen, da sich hier auch schon die einfachste Gegenstände als Schatztruhen erweisen. Das nach dem Verzehr des Seelenwecken am Finger zurückgebliebene Mehl kommt vor wie eine Offenbarung, und noch am Abend desselben Tags gräbt das Kind lang noch mit einem Holzlöffel in der im Schlafzimmer der Großeltern stehenden Mehlkiste, um das dort, wie er meinte, verborgene Geheimnis zu ergründen. Die dörflichen Verhältnisse in Frankreich zu dieser Zeit stellt man sich, zu Recht oder zu Unrecht, sich noch um einiges dörflicher vor. Von der dialektalen Prägung seiner Kindheit hat sich Sebald später deutlich, wenn nicht mit einem gewissen Abscheu losgesagt, andererseits aber immer wieder mit lexikalischen und syntaktischen Alemannismen gespielt. Um einiges weitergehend noch Michon: Cette langue désuète travaille en secret mon texte, certaines sonorités, des ellipses balourdes en sont directement issues. Et quand j’écris, je me parle souvent à moi-même, je me commente, je me moque de moi, je m’approuve ou me désapprouve, en patois. Ce sont ces vieux paysans morts qui, en moi, se défendent opiniâtrement contre le non-être.
Für den athée mal convaincu ist Rückkehr in die Kindheit auch Rückkehr zum sakralen Vokabular, das, weitaus mehr als die profane Sprache der Gottlosen, geeignet ist, eine gottverlassene Welt darzustellen, ce monde privé de grâce depuis l’origine des espèces mortelles. Einer der Höhepunkte des Buches ist die Messe, die ein der Trunksucht verfallener Priester für die Insassen einer Irrenanstalt ließt, crétins et idiots, wie es unverblümt heißt, so wie auch Sebald, die moderne, welterrettende Sprachschulung mißachtend, hartnäckig von Krüppeln, Negern und Zigeunern spricht. Peut-être l’abbé eût-il voulu, comme François d’Assise, parler pour les seuls oiseaux, les loups; car si ces êtres sans langage l’eussent compris, alors il en, eût été sûr: c’eût été que la Grâce le touchait. Corbeaux et sangliers émurent les idiots. Bei Sebald begegnen uns überall die entwurzelten Heiligen, den heiligen Franz hatte Selysses schon mit dem Gesicht nach unten in den Sümpfen von Venedig schwimmen sehen, trifft ihn dann aber wiedererstanden in der Person des demissionierten Majors Le Strange, der, den Menschen gänzlich entfremdet, ständig umschwärmt gewesen ist von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen.
J’étais quai d’Austerlitz, je ne partais pas. Das war noch, bevor Austerlitz sich anschickte, vom Austerlitzbahnhof aus die Suche nach dem Vater fortzusetzen. Ein Jahr jünger als Sebald war Michon drei Jahre vor ihm in Manchester allerdings nur kurz und ohne greifbare Folgen. Je m’envolai pour Manchester, rien n’y fut considérable.
Hat es zunächst den Anschein, als handle es sich um eine Autobiographie, in der der Autor nur als in den anderen gespiegelter Schemen erscheint, tritt er dann doch deutlicher hervor. Eine offenbar länger andauernde Phase im Dunkel von Trunk- und Tablettensucht wird mit einer Art nachsichtigen Schonungslosigkeit gezeichnet, die nicht jedem gefallen muß. Die leichte Eleganz, mit der Sebald als Selysses stets anwesend ist, ohne aber viel von sich preiszugeben, mag man vermissen. Die im engeren Sinne autobiographischen Passagen gewinnen ihren größten Wert in dem Augenblick, wo sie vom Leben und Sterben der anderen überwältigt werden, so während der Messe, die der geistliche Trunkenbold den Schwachsinnigen liest.
Acht Leben, davon zwei Doppelleben, also zehn: Vie d’André Dufourneau, das Leben eines Afrikareisenden; Vie D’Antoine Peluchet, das eines verlorenen Sohns; Vies d’Eugène et de Clara, das Leben der Großeltern väterlicherseits; Vies des frères Bakroot, das Leben zweier ungleichen Brüder; Vie du père Foucault, das Leben eines Analphabeten; Vie de Georges Brandy, das eines der Trunksucht verfallenen Priesters; Vie de Claudette, das einer Geliebten; Vie de la petite morte, das Leben der erstgebornen Schwester Madeleine, es hat kein Jahr gewährt. Que dans mes étes fictifs l’hiver des morts hésite. Que dans le conclave ailé qui se tient aux Cards sur les ruines de ce qui aurait pu être, ils soient.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen