Samstag, 17. Oktober 2020

Hausmannskost

Pas de parents

Hausmannskost, dem Wörterbuch der Gebrüder Grimm zufolge die Nahrung, wie sie ein Hausvater gewöhnlich für sich und die Seinigen bereiten läßt, inzwischen ersetzt durch die in der Familie, von wem auch immer, bereitete und verzehrte Speise. Da wir Adroddwr, den Erzähler, nie zuhaus antreffen, erleben wir ihn auch nicht beim gemeinsamen Essen im Familienkreis. Nur selten überhaupt sehen wir ihn eine feste Mahlzeit einnehmen, und wenn, dann unter meist unguten Umständen in einem Restaurant, die Pizza in Verona, die Fischschnitte in Lowestoft. In beiden Fällen ist er nicht nur allein am Tisch, sondern überhaupt der einzige Kunde in der Gaststätte. Der Besuch des Wadi Halfa noch in sehr jungen Jahren in der Begleitung Aurachs ist die Ausnahme. In einer Bar an der Riva kommt er mit dem Venezianer Malachio, ins Gespräch, in der Bar des Crown Hotels in Southwold mit dem Holländer de Jong. Auf seinen einsamen Wegen sowohl in den Schwindel.Gefühlen als auch in den Ringen des Saturn befindet sich der Erzähler in einer Ausnahmesituation. In den RS ist er nur für eine kurze, in den SG nur für eine begrenzte Zeit dem sogenannten heimischen Herd entwichen, der besteht, seitdem Clara, wie wir in der Erzählung Selwyn erfahren, unversehens ein Haus gekauft hatte. 
 
Die gemeinsame Mahlzeit, Herzstück des familiären Zusammenhalts. Läßt man sich von Modianos Büchern leiten, gewinnt man den Eindruck, als gäbe es in den französischen Privathäuser und -wohnungen nur in Ausnahmefällen Kochherde. Man nimmt seine Mahlzeiten im Restaurant zu sich, im Café, Bistrot, in der Brasserie, man trifft sich, zu zweit, zu dritt, zu mehreren, wenn auch nicht unbedingt in fröhlicher Runde. Wem das Geld fehlt, sichert sich bis ins hohe Alter einen Studentenausweis, der zum Essen in der Mensa berechtigt. Kaum je fällt ein Wort über die Qualität des Essens. Waterzoi de poisson wird in einem Lokal angeboten. Die Bedienung stellt sich nicht ein, des Gast verläßt das Etablissement. Nicht nur das Essen zuhaus, feste Wohnstätten scheinen überhaupt in Frankreich eine seltene Gattung zu sein. Oft hat man nur vorübergehend eine Zimmer irgendwo, nicht selten in einem Hotel. Alles ist darauf abgestellt, keinen festen Fuß zu fassen, ein provisorisches Leben, ce perpétuel sentiment d‘incertidude. Im Condé, dem Café de la jeunesse perdu, sitzen im Sommer und im Winter, bei Tag und bei Nacht immer die gleichen Gäste, so als sei es ihr Domizil. In Manchester ist es um Adroddwr, dem noch jungen Erzähler, zunächst nicht so sehr anders bestellt. Auch er führt ein Leben in der Schwebe. Unterkunft findet er in der Pension Arosa. Auf die gastronomische Dichte von Paris kann er allerdings nicht zurückgreifen, Manchester ist vielmehr menschenleer und bewirtungsfrei. Am Leben festhalten läßt in allein der in seinem Zimmer aufgestellte Teeapparat, durch sein Leuchten in der Nacht und sein leichtes Sprudeln am Morgen. Manchester ist nicht Paris, aber Paris kann sich für Augenblicke in eine Art Manchester verwandeln: Nous étions, cette nuit là, dans une ville désert. Nous avions aucun ancrage dans la vie. Nous étions seuls au monde. Aucun ancrage dans la vie, das entspricht aufs Wort Adroddwrs unbegreiflichem Gefühl der Unverbundenheit, das es sehr leicht macht, sich aus dem Leben zu entfernen. Kein Teeapparat, aber: J'étais contente de voir cette lumière verte. Je ne sais  pas pourquoi, elle me rassurait et j'ai fini par m'endormir.

Clara kauft unversehens ein Haus, damit trennen sich die Wege. Modiano kehrt in seinen Romanen immer wieder zurück in die Zeit der schwebenden Unverbundenheit. Adroddwr, den Erzähler, sehen wir zwar nie in Claras Haus geschweige denn beim Verzehr der Hausmannkost, vielmehr stets nur auf Reisen. Immer aber ist Claras Haus als ausgelagertes Zentrum vorhanden, so wie Penelopes Haus für Odysseus. Unerwartet und doch zuverlässig kehrt Odysseus, bei all dem, was ihn unterwegs erwartet, zurück in sein Haus auf Ithaka.

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