Freitag, 16. Oktober 2020

Wassluy

Sehnsucht


Venedig sehen und dann sterben. Adroddwr, der Erzähler, erkennt die Gefahr und begegnet ihr pragmatisch. Geht man in einer sonst leeren Gasse hinter jemandem her, so bedarf es nur einer geringen Beschleunigung der Schritte, um demjenigen, den man verfolgt, die Angst in den Nacken zu setzen. Umgekehrt wird man leicht selbst zum Verfolgten, und ein Schlag auf den Hinterkopf ist nicht auszuschließen. Draußen auf dem Kanal fährt ein mit Bergen von Müll beladener Kahn vorbei, auf dem eine große Ratte die Bordkante entlang läuft und sich kopfüber ins Wasser stürzte. Wo Ratten sind, ist die Pest nicht fern, es hilft nur eins, Venedig den Rücken kehren und abreisen. Was hatte ihn überhaupt nach Venedig getrieben, eine tiefe Sehnsucht wohl nicht.

Wassluy sehen und nicht sterben. Vaslui ist eine kleinere rumänische Stadt ohne Kanäle und ohne Lagune, nicht weit entfernt von Kischinau oder Tiraspol, näher selbst noch Odessa als Bukarest, Drehort des Films Police, Adjective. Eine Einstellung des Films vor allem bekommt man nicht wieder aus dem Sinn. Ein junges Mädchen tritt aus der Gartentür eines Hauses, einer Villa nach rumänischen Maßstäben, und entfernt sich zielstrebig mit raschem und beherztem Schritt. Für den jungen Fahnder ist sie der Beteiligung an Rauschmittelvergehen verdächtig, er heftet sich an ihre Fersen, folgt ihr mit gesenktem und so gut wie möglich im Jackenkragen verborgenem Gesicht mal schneller, mal langsamer, dann wieder schneller. Die Straße führt heraus aus dem Stadtteil, von dem bald nur noch das zum Horizont sich ausdehnende Wald- und Wiesenland zu sehen ist, hinauf auf eine Kuppe. Auf der rechten Seite in Marschrichtung sind Straße und Gehsteig begrenzt von einem nur von Bäumen überragten vollendet schönen Zaun, zu hoch, um darüber hinwegzuschauen, alle betörenden Geheimnisse der Welt sind wohl hinter dem Zaum verborgen. Aus dem in einer Niederung gelegenen Stadtteil führt die Straße über eine Kuppe und dann wieder hinab in einen anderen Stadtteil. Beim Aufstieg ist die Straße frei von Fahrzeugen, beim Abstieg kommen ganze zwei Autos entgegen. Nur drei Fußgänger sind unterwegs, das Mädchen, der Fahnder und eine ältere, korpulente Frau mit Einkäufen beladen, sie kann nicht Schritt halten und wird von den beiden überholt. Hinreißend die Rhythmik der unterschiedlichen Schrittweisen. Beschattung ist unter diesen Bedingungen mehr als schwierig, nur gut, daß das Mädchen nicht zurück über die Schulter schaut, aber darum geht es gar nicht.  Der Zaun säumt weiterhin die Straße auch beim Abstieg. Betörend ist die Stille, die Kargheit, der Frieden. Von der Kuppe aus wird ein Gebäudekomplex sichtbar, Mietskasernen, soweit erkennbar. Ja, die Bauten sind häßlich, doch welch ein Glück wäre es, darin für einige Zeit wohnen zu dürfen. Das Mädchen biegt schließlich ab von der Straße und verschwindet im kargen, an die alte Zeit erinnernden Billigbau eines kleineren wenig gepflegten Mietshauses, fast noch verlockender als die Mietskasernen. Von der Villa zur beengten Etagenwohnung, zweifellos ein Gewinn. Die ganze Szene ist wortlos, dem Eindruck nach ungeschnitten mit einer Dauer von zehn, mindestens sieben Minuten. Das ist die Tiefe des Erlebens. Tatsächlich ist nur der Übergang über die Kuppe, die hundert Meter davor und die hundert Meter danach ungeschnitten, und die Dauer beträgt nach banalem Zeitmaß nur etwa drei Minuten.

Aus Venedig flieht man vor Todschlag und Pest, nach Wassluy reist man besser gar nicht erst. Nicht, daß Totschlag und Pest drohen würden, nach Wassluy zu reisen wäre verhängnisvoll, weil sich die vom Film herbeigezauberte Sehnsucht nicht erfüllen, sondern auslöschen würde. Es bleibt nur der Weg, als heimlicher vierter Fußgänger das Mädchen und den Fahnder immer wieder zu begleiten.

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