Sonntag, 19. März 2023

Geheimnis der Zeit

Auf dem Bahnsteig

 

Nie habe er eine Uhr Uhr besessen, sagte Austerlitz, dem man zuerst auf dem Bahnhof Antwerpen begegnet war, weder einen Regulator noch einen Wecker noch eine Taschenuhr habe er besessen, und eine Armbanduhr schon gar nicht. Eine Uhr sei ihm immer wie etwas Lachhaftes vorgekommen, vielleicht weil er sich gegen die Macht der Zeit gesträubt und von dem sogenannten Zeitgeschehen sich ausgeschlossen habe. Ohne Uhr verflüchtigt sich die Zeit nicht, wohl aber die Illusion, man wisse, was die Zeit ist. Vielleicht kann man Einfluß nehmen auf die Zeit, sie in eine andere Richtung lavieren, sie vielleicht zur Umkehr bewegen. Jan Pradera plädiert für Umkehr und Neubeginn. Erstes Szenario: Er muß im Bahnhof Breslau noch auf seinen Nahverkehrszug warten, während gerade der Express anrollt und sogleich Fahrt aufnimmt. In diesem Augenblick stürmt Zbigniew Cybulski, bekannt als der polnische James Dean, auf den Bahnsteig und will noch auf den immer schneller fahrenden Zug aufspringen. Pradera breitet die Arme aus und läßt den verspäteten Cybulski nicht vorbei. Der ist verärgert und doch einsichtig, die Gefahr noch aufzuspringen bei dem bereits hohen Tempo war ersichtlich groß. Zweites Szenario: Pradera ist seinerseits bereits auf den anrollenden Expreßzug eingestiegen, als Cybulski auf den Bahnsteig rennt. Er hält ihn die Tür auf, faßt ihn am Arm und zieht ihn ohne Mühe in den Wagen. Bekanntlich ist es bei der an die Realität gebundenen Zeit anders gekommen, hier die Kurzfassung des realen Ablaufs: Dostał się pod koła, pokatułkalo go i kaput.

Donnerstag, 16. März 2023

Wenige Worte nur

Oberhalb von Bruneck

 

Nachdem er die angehenden Sommermonate mit verschiedenen Arbeiten in Verona beschäftigt war, konnte er den Winter nicht mehr abwarten und verbrachte die Oktoberwochen in einem oberhalb von Bruneck gelegenen Hotel, faßte aber eines Nachmittags, als der Großvenediger auf eine besonders geheimnisvolle Weise aus einer grauen Schneewolke auftauchte, den Entschluß nach England zurückzukehren: nur wenige karge Worte werden dem gar nicht einmal so kurzem Aufenthalt nahe Bruneck gegönnt, fast nur ein leeres Blatt. Man kann sich vorstellen, daß er Bruneck mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht, das Hotel dann mit einem Taxi. Von dem Hotel hoch oben erfährt man gar nichts. In Wien war er nicht auf der Höhe seiner Wahrnehmung gewesen, den Namen des dortigen Hotels hatte er sich nicht gemerkt, umso mehr dann die Namen der Hotels in Limone (Sole), in Mailand (Boston) und in Verona (Goldene Traube). Welchem dieser Hotels mochte dem oberhalb von Bruneck ähneln, wie war es mit dem Servicepersonal bestellt? Eine zweite Luciana ist ihm oberhalb von Bruneck wohl nicht begegnet, das hätte er nicht verschwiegen. Aus einem Hotel wie dem in Mailand wäre er wohl bald wieder ausgezogen, die armen Reisenden hatte er dort nur bedauert. Eine ungewöhnlich fürsorgliche Betreuung wie in Verona konnte er auch schlecht erwarten, man kann wohl von einer normalen Gastfreundlichkeit ausgehen, die nicht ausdrücklich gewürdigt werden muß. Wie hat er, abgesehen von den Mahlzeiten, seine Tage in dem Hotel und der Umgebung verbracht? Der Winter und damit der Schnee dürfen nicht übersehen werden, denkbar ist eine Schneewanderung am Vormittag, nachmittags in der Gaststube dann die Fortsetzung seiner Aufzeichnungen. Nach dem vom unversehens aus einer grauen Schneevolke auftauchenden Großvenediger eingeleiteten Aufbruch wird der Aufenthalt im Hotel oberhalb von Bruneck rückblickend nicht mehr erwähnt, in Innsbruck herrscht wieder Normalität, den Nahrungsmitteln, darunter nicht zuletzt die Getränke, kommt wieder die gebührende Aufmerksamkeit zuteil, die Sandler versammeln sich bereits am frühen Morgen um einen Bierkasten, der Reisende scherzt  über den Zichorienkaffee, worauf die Bedienerin ihm bösartige Weise das Maul anhängt. Nach dem Intermezzo oberhalb von Bruneck geht, wie man sieht, unterhalb von Bruneck alles wieder seinen gewohnten Gang. Ein abschließender Blick noch auf das Hotel zum Engelwirt in W. und die dort tätige Engelwirtin. Sie mustert ihn mit unverhohlener Mißbilligung wegen seiner nach von der langen Wanderung in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, bald aber kommen Gast und Gastgeberin hinreichend überein. Auch im Engelwirt kann er sich ungestört seinen Aufzeichnungen widmen, ein besonderes Interesse bei der Wirtin hat das freilich nicht hervorgerufen, anders als bei Luciana in Sole.