Dienstag, 2. August 2011

Kommentar Großvenediger

Wir sehen Selysses das Hotel weit oberhalb von Bruneck nicht betreten, lernen, entgegen aller Gewohnheit, die Empfangsdame nicht kennen und können uns auch kein Bild machen von der Unterkunft. Der im großen Bernhardschwung vorgetragene Eingangssatz der Erzählung Ritorno in patria – sicher ein Tribut an den Meister aus Österreich – kann für Auskünfte dieser Art nicht unterbrochen werden. Kafka gibt sich damit nicht zufrieden, er hat in den Reisetagebüchern geblättert und geforscht und einiges zutage gefördert. Eine große Diele, wo wir ein Foyer oder eine Lobby erwarten würden, ein Christus am Kreuz und kein Wasserklosett, offenbar also eine katholisch bäuerliche Herberge hart am Rande des einem modernen Reisenden noch Zumutbaren. Das Hotel ist menschenleer, aber die Hochzeiten der Umgebung werden hier gefeiert. Bestimmendes Merkmal ist die Kälte, kein Wunder in dieser Höhe und bei unbeheizter Diele. Hinsichtlich der Empfangsdame hat auch Kafka keine Erkenntnisse, dafür tritt unter seiner Anleitung Selysses mit dem Stubenmädchen in geradezu experimentelle Verhaltensstudien ein, die er im November zwecks Abreise dann aber aufgibt.
Großvenediger

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