Sonntag, 27. Juli 2008

Selysses und die Empfangsdamen - Besprechung

Wie Grillparzer finde ich an nichts Gefallen, bin
von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht
und wäre, wie ich oft meine, viel besser
bei meinen Landkarten und Fahrplänen
zu Hause geblieben.


Penelope und die fremden Wirtinnen
Gewohnt an die Bebilderung von Sebalds Bücher, mag man sich einen Augenblick wünschen, all diese Menschen im Empfang nicht nur mit den inneren Augen zu sehen. Als darstellenden Künstler wird man dann sozusagen naturgemäß an Jan Peter Tripp denken, aber eine solche Aufgabe läge wohl nicht auf seiner Linie. Robert Crumb hat uns Kafkas Frauen gezeichnet, für Sebalds flüchtige, oft durchsichtige Frauengestalten wäre er wohl zu grob. Der Wunsch nach optischer Vergegenwärtigung wird auch kaum Bestand haben, Sebald selbst gehört zweifellos zu den Malern, Philosophen und Dichtern, die mit unverwandt forschendem Blick und vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. Der Blick des Dichters ist der Blick des Weltenwanderers, to vlemma tou Odyssea. Sebalds Blick wird, so scheint es, unmittelbar in Worte umgeprägt, die Bebilderung seiner Bücher ist eine hinzukomponierte Zweitstimme, die zum Worttext in einer wechselnden, aber kaum je in der einfachen Beziehung bloßer Illustration steht. Die aufgeführten Empfangsszenen sind durchweg solche einer geradezu hilflos ihrer eigenen Intensität ausgelieferten Wahrnehmung, in deren Licht Blickwechsel und erwiderter Blick allerdings kaum aufscheinen oder jedenfalls oft verschwiegen bleiben.


Die Empfangszenen weisen leicht erkennbare Züge der Verwandtschaft auf, allerdings ist kaum ein Merkmal durchgehend anzutreffen, auch nicht das für diesen Aufsatz titelgebende. Nicht in jedem Fall sind es Frauen an der Rezeption. Sofern wir aber auf Männer treffen, sind sie irgendwie fehl am Platz, fast durchweg stark verkrüppelt und beinahe schon eher Fabelwesen. In zwei Szenen (Prag und Verona) sind sie zudem nur vorbereitend da und übergeben, nachdem ihr Ungenügen sich erwiesen hat, an eine Frau. Mailand, Hotel Boston, scheint die Umkehrung zu sein, die Frau ruft den Mann herbei, tatsächlich aber handelt es sich um zwei geschlechtslose Gespenster, die bei einem insgesamt gespenstischen Aufenthalt in der Stadt Selysses für eine gespentische Nacht erwarten. In den anderen Szenen ist männliche Anwesenheit jeweils aus der Erzählung heraus nicht nur besonders begründet, sondern zwingend. In der Marienbader Empfangsszene ist Selysses für einmal nicht allein, sondern in Begleitung einer Frau, Marie de Verneuil, und aus erzählerischer Notwendigkeit nicht für die nie unerotisch verlaufende Begegnung mit einer weiteren Frau an der Rezeption des Hotels eingestellt. Ithaca schließlich ist Geschehensort in der von einer gelinden, in den Luxushotel- und Casinoszenen gegen Proust und in der Orientpassage gegen Gide hin verdichtenden Homosexualität überschwebten, von Heterosexualität aber gänzlich freien Erzählung vom Ambros Adelwarth. Die in dieser Erzählung auftretenden Frauen sind ausschließlich Verwandte des Icherzählers, die Tanten Fini, Theres und Lina sowie Rosa, die Mutter, und es bleibt offen, ob das Inzestgebot sie zu asexueller Tantenhaftigkeit bewegt, oder ob eine spontane Tantenhaftigkeit das Inzestverbot überflüssig macht. Jedenfalls ist in der Rezeptionsszene in Ithaca ist jeder heteroerotische Funken zu vermeiden, Selysses, auf den Spuren des Ambros Adelwarth reisend, darf von daher nicht behelligt werden.

Reisen ist gegenüber dem Daheimbleiben immer der unwahrscheinlichere Zustand. Daß man zu diesem Ort gelangt und nicht zu einem anderen, in dieses Hotel oder diesen Gasthof eintritt und nicht in einen anderen, dort auf diesen Mann oder diese Frau trifft und nicht auf eine andere, erhöht die Unwahrscheinlichkeit jeweils immens. Selysses, wie wir begonnen haben, Sebalds Wanderer, seine verschiedenen Erzählinkarnationen übergreifend zu nennen, läßt sich meistens nicht anmerken, die Verarbeitung der Unwahrscheinlichkeit wird auf die andere Seite verlegt, wo sie in der Tat nicht geringer ist: Diese Person, Selysses, konnte nicht daheim bleiben, mußte in diese Stadt reisen, mußte bei uns, in diesem Gasthof absteigen und, um das Maß voll zu machen, nun gerade auf mich treffen.

Dieser sich in dem Augenblick bündelnden hohen Unwahrscheinlichkeit entsprechen in fast allen Rezeptionsszenen Momente der Verzögerung. Die Damen und Herren stellen sich nicht gleich ein, haben Schwierigkeiten, die räumliche Distanz zum Gast zu überwinden, können sich von einer anderen Beschäftigung nicht lösen, verrichten die Rezeptionsformalitäten mit äußerster Umständlichkeit. Die Wirkung dieser Verzögerungselemente ist ambivalent. Einerseits scheint Zeit gewonnen, den Unwahrscheinlichkeitsaugenblick in die Wirklichkeit einzupassen, andererseits gewinnt aber auch der unwahrscheinliche Augenblick Raum zu atmen, entfaltet sich und entschwebt ins unwirklich Phantastische, dies wiederum Entfaltungsraum für erotische Unterströmungen. Wir befinden uns in Übergangsräumen, in einer Art von Raum- und Zeitschleusen. Die Empfangsdamen, mehr noch die phantastischen Männer sind wie eingeschlossen in kleine Sicherheitskuben, man spürt das archaische Motiv der Gastfreundschaft und des Gastrechts, eine der frühesten zivilisatorischen Leistungen, entwickelt, um der Begegnung von Fremden das Mörderische zu nehmen.

Die bereits erwähnte Verschwiegenheit des Blicks bei den Empfangsdamen (die nur durch die geringfügigste Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit der weiblichen Auges, SG 87) ist ein erstes Element der Erotisierung. Bei den männlichen Personen in der Rezeption treten dagegen durchweg offene Wahrnehmungsschwierigkeiten auf. Sie scheinen sich zu verstecken, in ihrem Verschlag zu knien (Prag), wollen von ihrer Lektüre nicht aufblicken (Marienbad), sind so gebeugt, daß sie den Oberkörper und das Gesicht ihres gegenüber gar nicht ins Auge fassen können (Ithaca). Der Unterschied im Schauen von Frauen und Männern ist eine dichterische Obsession, die Sebalds Gesamtwerk durchzieht, siehe auch schon in Nach der Natur, die drei Nothelferinnen Barbara, Katharina und Margarethe stecken ihre Köpfe zusammen und sind im Blick verschworen gegen Blasius, Achaz und Eustach, Pantaleon, Aegidius, Cyriax, Christophorus und dem wirklich schönen heiligen Veit mit dem Hahn.

Wo immer es ihn hinträgt, erhofft und fürchtet der Sebaldsche Wanderer Selysses die Nymphe Kalypso oder die Göttin Kirke, erhofft Nausikaa, fürchtet die Sirenen. Um ihnen allen zu begegnen, heißt es aber zunächst Abschied nehmen von Penelope. Das findet statt, in überraschender Direktheit, im Austerlitzbuch auf Seite 207. Penelope hat den Familiennamen Peacefull, und geschildert wird nichts anderes als ein letzter friedvoller Augenblick ehelichen Zusammenlebens. Die beiden, Penelope und Selysses, gehen in einer Atmosphäre tiefer Vertrautheit, aufgehoben in der liebevollen Nähe des anderen still ihrer jeweiligen Beschäftigung nach. Dann und wann geht der Blick auf die Gasse hinaus, offenbar, wenn schon nicht Ithaka so doch eher Delft als London, ein Interieur a la Vermeer oder de Hoch. Penelope Peacefull ist nicht nur ein spaßiger Name, sondern gleichsam auch der Titel eines kleinen spaßigen Gemäldes, angebracht an der Stelle und in dem Augenblick, als Selysses aufbricht zu seiner Höllenfahrt (man sollte ihn in seiner Inkarnation als Austerlitz vielleicht Sedante nennen, zumal er sich über längere Strecken in der Obhut seiner Beatrice Marie de Verneuil bewegt). Man darf sicher sein, daß Sebald dieser extreme stilistische Kontrast nicht etwa nur unterlaufen ist, wer in den überwiegend elegischen, vom Lamento geprägten Tonlagen diese ständigen kleinen Gegenmelodien nicht wahrnimmt, hört allenfalls die halbe Musik.

Die größte Gefahr, Penelope untreu zu werden, erlebt Selysses offenbar, möchte man meinen, in der Begegnung mit Luciana Michelotti, immerhin kommt es zur Trauung der beiden (116). Die Szene weist aber wesentliche Merkmale der anderen nicht auf und fällt insofern aus dem Rahmen. Luciana bleibt nicht eingeschlossen in einen kurzen Augenblick des Empfangs, das Zusammensein mit Selysses erstreckt sich über mehr als zehn Seiten. Auch war man offenbar schon bekannt und kommt sich zum einem durch die momentane schwermütige Stimmung Luciana näher, während Selysses im weiteren dann von ihrer im Grunde lebensfrohen Art profitiert. Auch Lucianas zunächst verschwiegener Blick öffnet sich, nachdem er gleichsam hinter das schemenhafte Abbild der Photographie gelangt ist, in vollem Umfang und übertrumpft für einmal den Blick des Selysses. Hat hier schon der Ritorno, die Rückkehr nach Wertach-Ithaka begonnen, dämmert Penelope etwas?

Die Engelwirtin in Wertach ist jedenfalls nicht Penelope, eher schon eine der lockeren Mägde des heimkehrenden Weltendurchmessers. Die erotischen Implikationen der Engelwirtszene sind für Sebalds Verhältnisse schon geradezu drastisch zu nennen. Die ambivalente Geste der über der Brust zusammengenommenen Jacke der Dame im Gast-Gewerbe, Abwehr und Einladung zugleich, die daraus resultierende Einhändigkeit, die zur endlosen Dehnung des Augenblicks führt. Auf der anderen Seite Selysses mit allen Merkmalen des potentiellen Vergewaltigers, heruntergekommen von langer Reise, mittellos wie ein Bettler, offenbar listenreiche Lügengeschichten (Auslandskorrespondent) erzählend, bartstoppelig, den Jäger Hans Schlag schon vorwegnehmend und die wüste Geschichte, die er auslöst. Indem Selysses mit dem Jäger Hans Schlag verschmilzt, verschmilzt er auch mit dem ewigen Jäger Gracchus, der im Jäger Schlag in Wertach seinen Tod findet, soweit nicht entfernt vom Schwarzwald, wo er ihn zunächst verfehlt hatte. Aber hatte Selysses nicht schon sehr früh seine Nachfolge angetreten? Unmittelbar nach dem Tod des Jägers Schlag-Gracchus war der Knabe einer lebensbedrohlichen Krankheit verfallen und als Selysses-Schlag-Gracchus: Seracchus vom Tode wieder auferstanden. – Mit unserem Blick aus der Peripherie der Erzählung wollen wir nicht versuchen, zu tief in ihr Inneres einzudringen. Allerdings besteht auch keine besondere Gefahr. Sebalds Bedeutungsgewebe sind so luftig und unverwüstlich zugleich, daß sich, anders als beim Totentuch des Laertes, in der Nacht und auch am Tage beliebig viele und lange Fäden ziehen lassen, ohne das Prosakleid nur irgend zu mindern.

Die Szene in Kissingen ist, bei all ihrer Herrlichkeit, in unserem Zusammenhang eher unergiebig, hier geht es vordringlich um das Feindschaftsverhältnis zwischen Deutschland und Selysses. Auch von einer Verschwiegenheit des Blicks kann bei einer derart offenen Konfrontation nicht die Rede sein.

Die Lowestoftszene ist in gewissem Sinn eine Kurzfassung der Engelwirtszene. Auch hier ruft der Wanderer Schrecken hervor. Das Bild wird nicht weiter vertieft. Während aber die Engelwirtin nach Aushändigung des Zimmerschlüssels aus der Erzählung verschwindet oder allenfalls in älteren Inkarnationen von Engelwirtinnen und Engelwirtsbedienerinnen fortlebt, reicht die Victoriawirtin Speis und Trank, ist also nicht nur Wirtin der Nacht, und leitet damit eine der für die Wanderungen des Selysses in ihrem katastrophalen Verlauf typischen Mahlzeiten ein.

Die Szene im Café des Sports von Evisa bringt die letzte Steigerung der mehr oder weniger desolaten Szenerien. Sünde und die Strafe Gottes liegen über dem Land. Sergio Leones Bild- und Sebalds Sprachvisionen scheinen verschmolzen. Es könnte die Eingangsszene zum Lied vom Tode sein, und es ist die Eingangsszene zu den Moments Musicaux, also durchaus verwandt. Es ist ein Augenblick völliger Verlorenheit. Der Tod dreht ein mit Pastis gefülltes Stundenglas, das Cafe ist ohne Bedienung, die Bedienerin Kirke ist offenbar durch die Hintertür verschwunden und zieht nun mit einem Schwein am Fenster vorbei, wer mag der so schrecklich Verzauberte sein?

In Manchester klopft ein noch nicht wettergegerbter Selysses an die Tür des Nachtquartiers, seine Name ist vermutlich Joseph und es dürfte Potiphars Weib sein, das ihn mit einem geheimnisvollen Lächeln ins Innere des Hauses lockt, obwohl es keinerlei Anzeichen eines Mr. Potiphars gibt. Der unerklärlicherweise mit dem Wort /candlewick/ bezeichnete rosarote und frotteeähnliche, einzig in den Schlafzimmern der unteren englischen Klassen Verwendung findende Stoff, dürfte die Unschuld besser als jeder Panzer schützen und wird Joseph auch von den von Potiphars Weib ohne das geringste Anzeichen von Ironie mit dem von ihr selbst geprägten Sammelbegriff the gentlemen's travelling companions bedachten bunten Damen fernhalten. Keuschheit leicht gemacht im Bordell. – Gracie Irlam kehr im übrigen noch einmal zurück in der Erzählung, zunächst in dem Gemälde G.I. on her Blue Candlewick Cover (AW 264) und dann, kurz darauf und ohne weitere Erklärung, als die Flügelhornistin Gracie Irlam; eine Karriere wie die der Rachel im Temps Perdu, freilich im Miniaturformat.

In der Goldenen Traube zu Verona wird dem überwiegend höllennah wandernden Selysses/Sedante für einmal ein überwältigender Empfang bereitet. Die Geschäftsführerin des Etablissements kommt nur ganz flüchtig ins Bild, es muß gleichwohl Nausikaa sein. Sie breitet das Dach der Goldenen Traube als einen in den schönsten Braun- und Ziegeltönen gefärbten Fittich über den Schlaf des Wanderers und kredenzt ihm ein ans Wunderbare grenzendes Frühstück. Er wird nun keinen Fuß mehr verkehrt setzen.

Die Empfangsdamen und ihre fabulösen männlichen Substitute stellen innerhalb der Reisebekanntschaften eine klar umrissene Sondergruppe dar. Die hohe Unwahrscheinlichkeit des Zusammentreffens ist gleichwohl erheblich herabgesetzt, da sie sich an professionellen Treffpunkten befinden. Wie Kalypso, Kirke und Nausikaa sind sie von den Reisegöttern vorbestimmt. Innerhalb der Gruppe der Empfangsdamen sind wiederum mehrere Untergruppen zu unterscheiden. Die weitaus tiefste Beziehung ergibt sich zweifellos zu den Wirtinnen, die den Gast immerhin für die Nacht in ihr Haus nehmen. Kein Wunder also, wenn sie die Identität des Reisenden zu ergründen suchen, die Selysses aber kaum je preisgibt und die auch Penelope nur erahnt. In der Goldenen Traube in Verona trägt er sich als der Historiker und Weltenwanderer Jakob Philipp Fallmerayer ein, verstorben bereits 1861, in Wertach als Auslandskorrespondent. Dabei handelt es sich kaum um Lug und Trug, denn eine stabile Identität hat Selysses nicht.

Empfangsdamen in Museen und Archiven

Die Begegnung mit Empfangsdamen in Museen und Archiven ist weitaus unverfänglicher. Auf keiner der beiden Seiten ist eine besondere Verpflichtung erforderlich oder angebracht. Man trifft sich bei Tageslicht und wird bei Tageslicht wieder auseinander gehen. Die Damen tragen altmodisch gewelltes Haar oder sind beinahe transparent. Wir können noch die blaßblau ondulierte Dame an der Rezeption der nervenärztlichen Praxis hinzuzählen, die freilich angesichts der umgebenden mental disease sichtlich entsetzt ist. (AW 158)

Die Szenen Staatsarchiv Prag und Casa Bonaparte Ajaccio weisen eine eigenartig sich kreuzende Parallelität auf. Die beiden Empfangsmenschen sind für den Besucher wegen ihrer niedrigen Position zunächst unsichtbar, der eine kniet in seinem Verschlag, die andere liegt in einem schwarzledernen zurückgekippten Bürosessel. Der Mann wird gegen eine Frau, Tereza Ambrosova, ausgetauscht, die Frau erweist sich als der Mann Bonaparte.

Verkehrsfunktionärinnen

Man sollte meinen, an den Knotenpunkten des modernen Massenverkehrs kommt es wegen der Überfülle hastender Menschen nicht zu nennenswerten Begegnungen. Sebald hat mitten in London eine namenlose U-Bahnstation ersonnen, an der niemals jemand ein- oder aussteigt, ein schwarzes Loch, eine Gegenwelt. Zum ersten Mal nähert sich Selysses der Station von außen und sieht sich Auge in Auge mit der Negerin in ihrem engen Schalterhäuschen. Die Begegnung scheitert nicht an einer Menschenmasse, sondern an einer unerträglichen dunklen Einsamkeit.

Die Schwärze der Negerin ist ästhetisch, sozusagen farbtechnisch instrumentalisiert. Zugleich aber ist es eine Szene der Einkerkerung und Versklavung die damit einerseits vor dem Hintergrund des großen Kongokapitels im Saturnbuch steht, während sie andererseits sich abhebt von den befreiten, in großen Limousinen und Vans dahinrollenden Negern, Freunde des Selysses, die eine Lebensfreude ausstrahlen, die Europa vergessen und auf die es auch kein Anrecht mehr hat. Im selben Buch, nur wenige Seiten zuvor (SG 267) war es eine allseits weitausladende lila Limousine mit einem hellgrünen Dach, und drinnen an dem elfenbeinfarbenen Lenkrad saß ein Neger, der mir, als er vorbeifuhr, lachend seine gleichfalls elfenbeinfarbenen Zähne zeigte. In der Adelwartherzählung (AW 154) befindet sich Selysses auf dem Highway 17 einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder ihm durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie ihn als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herz geschlossen hatten.

Der Flughafen Schiphol scheint das genaue Gegenteil der Londoner U-Bahn. Licht durchflutet den Terminal. Die Funktionärinnen des Flugverkehrs sind unsichtbar und vorhanden nur als engelhafte Stimmen. Der da über kurz oder lang jeden aufruft kann aber nur der Tod sein. Auch Selysses wird schließlich beim Namen gerufen und nach dem Start trägt ihn der Flug über ein Gelände nicht weniger menschenfrei als die U-Bahn aus Antimaterie. Offenbar sind die Sammelplätze des Massenverkehrs Todeszonen und der Gegensatz besteht nicht zwischen London und Amsterdam, zwischen Verkehr unterhalb oder oberhalb der Erde, sondern zwischen den reisenden Massen und dem einsamen Wanderer Selysses.

Auch wenn man an anscheinend belanglosen Nebeneingängen der Sebaldschen Prosa nestelt, erweist sie die gleiche Dichte und Unauflösbarkeit der Textur wie in den zentralen Themenbereichen. Das Pisanello abgewonnene Ideal, allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuzusprechen (SG 84), ist in Sebalds Worttableaus realisiert. Wie ist das möglich, wie läßt sich ein Text bis in die letzten Einzelheiten beherrschen? Einerseits sind Sebalds Arbeiten extrem durchdacht und kalkuliert, andererseits aber ergibt sich ab einer bestimmten semantischen Dichte über die geplanten Beziehungen hinaus durch die Systemaktivität des Textes ein immenser, letztlich unendlicher Überschuß weiterer Beziehungen, man könnte sagen, die semantische Dichte verdichtet sich selbständig weiter. Wo diese Schwelle erreicht und überschritten wird, wird man auch heute noch von Dichtung sprechen wollen.

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