Im Hintergrund
Es beginnt eigentlich immer mit ihm, dann tritt er in den Hintergrund. Den Onkel hatte er nur ein einziges Mal gesehen, als Kind im Sommer des Jahres 1951. An die sechzig Personen waren zu einem umfassenden Familientreffen nach W. eingeladen, darunter auch sämtliche Amerikaner, wie man sie kurz und bündig nannte, und bei der großen Kaffeetafel im Schützenhaus wurde der Onkel, als der Älteste der nach Amerika Ausgewanderten und ihr Vorfahr sozusagen, aufgefordert, das Wort an die versammelte Sippschaft zu richten. Obzwar ihm vom Inhalt der Kaffeetafelansprache des Onkels nichts mehr erinnerlich ist, entsinnt er sich doch, zutiefst beeindruckt gewesen zu sein von der Tatsache, daß er anscheinend mühelos nach der Schrift redete und Wörter und Wendungen gebrauchte, von denen er allenfalls ahnen konnte, was sie bedeuteten. 1966, in seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr und nachdem er bislang nie mehr als fünf oder sechs Zugstunden von zu Hause weg gewesen war, entschließt er sich aus verschiedenen Erwägungen nach England überzusiedeln, ohne eine zulängliche Vorstellung davon, wie es dort aussehen und wie er, ganz nur auf sich gestellt, in der Fremde zurechtkommen würde. Letztlich ist es allein das sinnreiche, in seinem Zimmer aufgestellte Gerät, die sogenannte teas-maid, eine Kombination aus einem Teekocher mit der Gestalt eines kleinen Kraftwerks und einer Weckeruhr, das ihn durch sein nächtliches Leuchten und sein leises Sprudeln am Morgen und durch sein bloßes Dastehen untertags am Leben festhalten läßt. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ist er, teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus anderen, ihm selber nicht recht erfindlichen Gründen von England aus wiederholt nach Belgien gefahren. In Erinnerung geblieben sind ihm vor allem etliche im dortigen Nocturama behauste Tiere mit auffallend großen Augen und jenem unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. Im September 1970 begibt er sich, inzwischen verheiratet, auf Wohnungssuche in der Umgebung der ostenglischen Stadt Norwich. Nachdem sie zunächst bei einem gewissen Dr. Selwyn untergekommen sind, kauft Clara, seine Frau, im Mai 1971 eines Nachmittags unversehens ein Haus, das die beiden fortan bewohnen. Im Oktober 1980 fährt er nach Wien, in der Hoffnung, durch eine Ortveränderung über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen. Die Kur verfängt nicht. Rastlos läuft er durch die Stadt. Er hat niemanden, mit dem er sprechen kann, selbst die Telephone bleiben stumm. Bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus hat er einiges geredet und mit einer weißköpfigen Amsel. Bald sind deutliche Spuren der Verwahrlosung sind nicht mehr zu übersehen, er begann in einer aus England mitgebrachten Plastiktüte allerlei unnütze Dinge mit sich herumzuführen, die ihm immer unentbehrlicher wurden. Der Anblick des inwendig schon gänzlich in Fetzen aufgelösten Schuhwerks entsetzt ihn, es würgt ihm im Hals und die Augen trüben sich. Er reist weiter nach Venedig, dann nach Verona, ohne daß sich seine Lage grundsätzlich ändert. In einer Pizzeria in Verona erfaßt ihn eine plötzliche Panik, er legt 10 000 Lire auf den Teller, rafft die Zeitung zusammen, stürzt auf die Straße hinaus, läuft zur Piazza hinüber, geht dort in eine hellerleuchtete Bar, läßt sich ein Taxi rufen, fährt ins Hotel zurück, packt in aller Eile seine Sachen und flüchtet mit dem Nachtzug zurück über den Brenner. Im Januar 1984 erreicht ihn aus S. die Nachricht, Paul Bereyter, bei dem er in der Volksschule gewesen war, habe am Abend des 30. Dezember seinem Leben ein Ende gemacht. In den nachfolgenden Jahren hat er sich immer häufiger mit Paul Bereyter beschäftigt und versucht, hinter seine ihm so gut wie unbekannte Geschichte zu kommen. Im Sommer 1987 hat er, einem seit langem sich rührenden nachgebend, die Reise von Wien über Venedig nach Verona noch einmal gemacht. Die Reise verläuft wie geplant und diesmal weitgehend ohne besondere Vorkommnisse. Nachdem er die Oktoberwochen in einem weit oberhalb von Bruneck, am Ende der Vegetation gelegenen Hotel verbracht hatte, faßt er eines Nachmittags den Entschluß, nach England zurückzukehren, vorher aber noch seinen Geburtsort W. zu besuchen. Im August 1992 dann macht er sich auf eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk in der Hoffnung, einer sich in ihm ausbreitenden Leere zu entkommen, eine Hoffnung, die sich, anders als seinerzeit in Wien, zu einem gewissen Grade erfüllt, denn selten hat er sich so ungebunden gefühlt als wie bei dem stunden- und tagelangen Dahinwandern durch die teilweise nur spärlich besiedelten Landstriche hinter dem Ufer des Meers. 1993, auf den Tag genau ein Jahr nach dem Beginn seiner Reise, wird er in einem Zustand nahezu gänzlicher Unbeweglichkeit in das Spital der Provinzhauptstadt eingeliefert. Zwei Krankenschwestern, Katy und Lizzie, umschweben ihn engelsgleich, und er glaubt, nur selten sei er so glücklich gewesen wie unter ihrer Obhut. 1996, die Lähmung ist längst überwunden, sind es die Augen. Beim Heraussuchen einer Anschrift aus dem Telephonbuch bemerkt er, daß, sozusagen über Nacht die Sehkraft seines rechten Auges fast gänzlich verschwunden war. Es handele sich, stellt der Ophthalmologe die beruhigende Diagnose, um einen meist nur zeitweiligen Defekt, bei dem sich an der Makula, etwa wie unter einer Tapete, eine Blase bilde, die von einer klaren Flüssigkeit unterlaufen sei. Im Jahr darauf taucht er in Paris auf, dann verliert sich die Spur.
Es beginnt eigentlich immer mit ihm, dann tritt er in den Hintergrund. Den Onkel hatte er nur ein einziges Mal gesehen, als Kind im Sommer des Jahres 1951. An die sechzig Personen waren zu einem umfassenden Familientreffen nach W. eingeladen, darunter auch sämtliche Amerikaner, wie man sie kurz und bündig nannte, und bei der großen Kaffeetafel im Schützenhaus wurde der Onkel, als der Älteste der nach Amerika Ausgewanderten und ihr Vorfahr sozusagen, aufgefordert, das Wort an die versammelte Sippschaft zu richten. Obzwar ihm vom Inhalt der Kaffeetafelansprache des Onkels nichts mehr erinnerlich ist, entsinnt er sich doch, zutiefst beeindruckt gewesen zu sein von der Tatsache, daß er anscheinend mühelos nach der Schrift redete und Wörter und Wendungen gebrauchte, von denen er allenfalls ahnen konnte, was sie bedeuteten. 1966, in seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr und nachdem er bislang nie mehr als fünf oder sechs Zugstunden von zu Hause weg gewesen war, entschließt er sich aus verschiedenen Erwägungen nach England überzusiedeln, ohne eine zulängliche Vorstellung davon, wie es dort aussehen und wie er, ganz nur auf sich gestellt, in der Fremde zurechtkommen würde. Letztlich ist es allein das sinnreiche, in seinem Zimmer aufgestellte Gerät, die sogenannte teas-maid, eine Kombination aus einem Teekocher mit der Gestalt eines kleinen Kraftwerks und einer Weckeruhr, das ihn durch sein nächtliches Leuchten und sein leises Sprudeln am Morgen und durch sein bloßes Dastehen untertags am Leben festhalten läßt. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ist er, teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus anderen, ihm selber nicht recht erfindlichen Gründen von England aus wiederholt nach Belgien gefahren. In Erinnerung geblieben sind ihm vor allem etliche im dortigen Nocturama behauste Tiere mit auffallend großen Augen und jenem unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. Im September 1970 begibt er sich, inzwischen verheiratet, auf Wohnungssuche in der Umgebung der ostenglischen Stadt Norwich. Nachdem sie zunächst bei einem gewissen Dr. Selwyn untergekommen sind, kauft Clara, seine Frau, im Mai 1971 eines Nachmittags unversehens ein Haus, das die beiden fortan bewohnen. Im Oktober 1980 fährt er nach Wien, in der Hoffnung, durch eine Ortveränderung über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen. Die Kur verfängt nicht. Rastlos läuft er durch die Stadt. Er hat niemanden, mit dem er sprechen kann, selbst die Telephone bleiben stumm. Bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus hat er einiges geredet und mit einer weißköpfigen Amsel. Bald sind deutliche Spuren der Verwahrlosung sind nicht mehr zu übersehen, er begann in einer aus England mitgebrachten Plastiktüte allerlei unnütze Dinge mit sich herumzuführen, die ihm immer unentbehrlicher wurden. Der Anblick des inwendig schon gänzlich in Fetzen aufgelösten Schuhwerks entsetzt ihn, es würgt ihm im Hals und die Augen trüben sich. Er reist weiter nach Venedig, dann nach Verona, ohne daß sich seine Lage grundsätzlich ändert. In einer Pizzeria in Verona erfaßt ihn eine plötzliche Panik, er legt 10 000 Lire auf den Teller, rafft die Zeitung zusammen, stürzt auf die Straße hinaus, läuft zur Piazza hinüber, geht dort in eine hellerleuchtete Bar, läßt sich ein Taxi rufen, fährt ins Hotel zurück, packt in aller Eile seine Sachen und flüchtet mit dem Nachtzug zurück über den Brenner. Im Januar 1984 erreicht ihn aus S. die Nachricht, Paul Bereyter, bei dem er in der Volksschule gewesen war, habe am Abend des 30. Dezember seinem Leben ein Ende gemacht. In den nachfolgenden Jahren hat er sich immer häufiger mit Paul Bereyter beschäftigt und versucht, hinter seine ihm so gut wie unbekannte Geschichte zu kommen. Im Sommer 1987 hat er, einem seit langem sich rührenden nachgebend, die Reise von Wien über Venedig nach Verona noch einmal gemacht. Die Reise verläuft wie geplant und diesmal weitgehend ohne besondere Vorkommnisse. Nachdem er die Oktoberwochen in einem weit oberhalb von Bruneck, am Ende der Vegetation gelegenen Hotel verbracht hatte, faßt er eines Nachmittags den Entschluß, nach England zurückzukehren, vorher aber noch seinen Geburtsort W. zu besuchen. Im August 1992 dann macht er sich auf eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk in der Hoffnung, einer sich in ihm ausbreitenden Leere zu entkommen, eine Hoffnung, die sich, anders als seinerzeit in Wien, zu einem gewissen Grade erfüllt, denn selten hat er sich so ungebunden gefühlt als wie bei dem stunden- und tagelangen Dahinwandern durch die teilweise nur spärlich besiedelten Landstriche hinter dem Ufer des Meers. 1993, auf den Tag genau ein Jahr nach dem Beginn seiner Reise, wird er in einem Zustand nahezu gänzlicher Unbeweglichkeit in das Spital der Provinzhauptstadt eingeliefert. Zwei Krankenschwestern, Katy und Lizzie, umschweben ihn engelsgleich, und er glaubt, nur selten sei er so glücklich gewesen wie unter ihrer Obhut. 1996, die Lähmung ist längst überwunden, sind es die Augen. Beim Heraussuchen einer Anschrift aus dem Telephonbuch bemerkt er, daß, sozusagen über Nacht die Sehkraft seines rechten Auges fast gänzlich verschwunden war. Es handele sich, stellt der Ophthalmologe die beruhigende Diagnose, um einen meist nur zeitweiligen Defekt, bei dem sich an der Makula, etwa wie unter einer Tapete, eine Blase bilde, die von einer klaren Flüssigkeit unterlaufen sei. Im Jahr darauf taucht er in Paris auf, dann verliert sich die Spur.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen