Dienstag, 16. Oktober 2018

Warten

Furcht und Freude

Wenn Großstädte wie Manchester menschenleer sind oder, wie Prag, kurz vor der Entvölkerung stehen - sämtlich chronische Raucher, krank und grau, nicht mehr weit von ihrem Ende entfernt -, dann ist es nicht weiter verwunderlich, wenn der Dichter sich in Hotels, Pensionen oder auch Museen nie in eine Warteschlange einreihen muß. Die Empfangsdamen wenden sich ihm gleich zu, so als hätten sie ihn schon erwartet, in Furcht oder in Freude. Luciana Michelotti gehört sicher zu denen, die ihn mit Freude erwarten, versucht das aber zu kaschieren. Mit auffälliger Langsamkeit nahm sie das Registrationsgeschäft vor, blätterte in Verwunderung vielleicht über seine Gleichaltrigkeit mit ihr, in seinem Paß, verglich mehrmals sein Gesicht mit der Photographie, wobei ihm mir einmal lang in die Augen schaute, verschloß das Dokument zuletzt bedachtsam in seiner Lade und händigte ihm den Zimmerschlüssel aus. Später aber gelingt es ihr dann, die Feriengäste auf die Terrasse zu verbannen, um den Innenraum allein mit dem Dichter zu teilen. Bei der Engelwirtin sieht es auf den ersten Blick eher nach Furcht und Abscheu aus. Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie ihn, sei es wegen seiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen seiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Obzwar ein zur Straße hinaus gelegenes Zimmer im ersten Stock ohne jeden Zweifel verfügbar war, blätterte sie vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie ihm die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir ihm schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber. Was die Langsamkeit des Vorgehens anbelangt, unterscheiden sich die Registrierungsprozeduren in Limone und W. nicht sonderlich, vielleicht verbirgt die Engelwirtin ihre Freude nur um einiges sorgfältiger noch. Hinweise, die diese Deutungsmöglichkeit stützen würden, ergeben sich im weiteren Verlauf allerdings nicht. 

So häufig die Begegnungen mit Empfangsdamen in Übernachtungsstätten und Museen sind - nur zwei wurden hier erneut vorgestellt -, so selten geht der Dichter die Gefahr von Wartezeiten in Ladengeschäften ein, Wartezeiten unter den modernen Bedingungen der Selbstbedienung vornehmlich an der Kasse. Middleton ist nicht der geeignete Ort, die Probe aus Exempel zu machen. Das Mädchen hinter der Theke des ansonsten menschenleeren Dorfladens mißt ihn stumm mit einem mißbilligenden Blick, auf seinen Gruß hin starrt sie ihm nur völlig fassungslos ins Gesicht. Eine Deutung dieses Verhaltens als kaschierter Freude ist nicht möglich, es ist überdies die denkbar blasseste Begegnung überhaupt, wortlos bis zum Ende. Wieviel lebhafter geht es doch an den Kassen der Supermärkte zu, jedenfalls in Ländern, in denen man den Menschen mit offenem Herzen begegnet, da wird die Wartezeit nicht lang. Sie habe ein fabelhaftes Gedächtnis, läßt die Kassiererin wissen, zum Beispiel die Dame, die als nächste an der Reihe ist, sie wisse noch genau, wie sie vor dreißig Jahren ausgesehen habe, ein Fräuleinchen, ein Mädchen, ein Mädchen mit zwei blonden Zöpfen, in einer weißen Bluse, mit einem Jabot, und einem granatfarbenen Plisseerock. Davon sei nun nicht mehr viel übrig. Auch an Pola Negri könne sie sich erinnern, als sie aber von Wincenty Rozański zu Paderewski befragt wird, muß sie passen, nein, von Paderewski weiß sie nichts zu sagen.

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