Sonntag, 2. Juni 2019

Archetyp

Wortkarg

Frau Elmenbach, einen Pfeil in der Frisur, die Büste wegen der Nähe zur der Haustür von einer Strickjacke umhüllt, thronte bei Federn, Streusand und einer Rechenmaschine hinter einer Art von Ladentisch, der den nischenartigen Bureauraum von der Diele trennte. Ein Angestellter, von seinem Stehpult hinweggetreten, verhandelte seitlich auf englisch mit einem Herrn im Kragenmantel, dem die beim Eingang aufgehäuften Koffer gehören mochten. Die Wirtin, phlegmatischen Auges mehr über die Damen Kestner hinwegblickend als von ihnen Notiz nehmend, erwiderte den Gruß der Älteren, den angedeuteten Knicks der Jungen mit würdiger Kopfneigung, vernahm die vom Kellner vermittelte Zimmerforderung hingehaltenen Ohres und ergriff einen gestielten Hausplan, auf dem sie eine Weile die Bleistiftspitze herumführte. Siebenundzwanzig, bestimmte sie, gegen den grünbeschürzten Hausdiener gewandt.

Hinter der Rezeption im Engelwirt war, nachdem sich auf mein Läuten lang nichts gerührt hatte, eine sehr wortkarge Dame aufgetaucht. Ich hatte nirgends eine Tür gehen hören, nirgends sie hereinkommen sehen, und doch war sie auf einmal dagewesen. Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie mich, sei es wegen meiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen meiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Ich verlangte ein Zimmer zur Straße hinaus im ersten Stock, vorerst auf unbestimmte Zeit. Obzwar es ohne weiteres möglich sein mußte, meinem Wunsch zu entsprechen, weil auch im Gastgewerbe im November der Totenmonat ist, in welchem das in dem leeren Haus verbliebene Personal den abgewichenen Gästen nachtrauert, als seien sie wirklich auf ewig abgereist, obzwar also ein zur Straße hinaus gelegenes Zimmer im ersten Stock ohne jeden Zweifel verfügbar war, blätterte die Rezeptionsdame vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie mir die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir mir schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber. Den ausgefüllten Anmeldezettel, auf dem ich als Berufsbezeichnung "Auslandskorrespondent" und meine komplizierte englische Adresse angegeben hatte, studierte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
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Beide Rezeptionsdamen sind in eine Strickjacke eingehüllt, beide ostentativ langsam in der Abwicklung der Geschäfte, beide nicht ohne Verachtung für die Gäste, in beiden Fällen ein englische Beigabe. Feder, Streusand, ein Knicks deuten an, daß Frau Elmenbach nicht unserer Zeit angehört, auch die Rechenmaschine wird nicht das sein, was wir inzwischen gewohnt sind. Tatsächlich handelt es sich bei der Hofrätin Kestner, die in den Gasthof Zum Elephanten in Weimar einzieht, um Werthers ehemalige Lotte. Die beiden Rezeptionsdamen, die in Weimar und die in der Ortschaft W., trennen aber nicht nur nahezu zweihundert Jahre, den Übereinstimmungen beim Empfang stehen erhebliche Unterschiede gegenüber. Im Gasthof Zum Elephanten herrscht reges Treiben, Frau Elmenbach bedient ein Zweiergruppe, gleichzeitig verhandelt ein Angestellter mit einem Herrn im Kragenmantel, ein Kellner und ein Hausdiener sind zur Stelle, möglicherweise noch weitere, nicht ausdrücklich genannte Bedienstete und Gäste. Die Engelwirtin ist dagegen allein auf weiter Flur mit einem Gast männlichen Geschlechts. Der Dichter hatte die Empfangsszene mit ihrem archetypischen Kern zuvor bereits mehrfach variiert.

In Limone ist er ebenfalls allein mit der Dame am Empfang, die Prozedur in gleicher Weise zeitlich gedehnt. Mit auffälliger Langsamkeit nimmt die Hotelière das Registrationsgeschäft vor, blättert anhaltend im Paß, vergleicht mehrfach das Gesicht des Reisenden mit der Photographie, wobei sie ihm einmal lang in die Augen schaut, verschließt das Dokument zuletzt bedachtsam in einer Lade und händigt ihm den Zimmerschlüssel aus. Auch im Hotel Boston zu Mailand geht es nicht zügig voran. Ein völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig oder siebzig Jahren kommt aus dem Fernsehzimmer hervor. Skeptisch hält die Signora ihren Vogelblick auf den Reisenden gerichtet, der für den Augenblick keinen Paß vorlegen kann. Skeptisch folgt sie seinen Erläuterungen und ruft schließlich ihren Mann, der seinerseits aus dem Fernsehzimmer herauswankt. Der Reisende erzählt die Geschichte des verlorenen Passes ein weiteres Mal, halb mitleidig, halb verächtlich wird ihm zuguterletzt ein alter eiserner Schlüssel mit der Nummer 513 ausgehändigt.

Von der Vogelfrau im Mailand erfahren wir das ungefähre Alter, von der Hotelière in Limone das exakte Alter, vierundvierzig Jahre auf den Tag genau, es ist ihr Geburtstag. Wir lernen sie auch mit Namen kennen, Luciana Michelotti heißt sie, und wir lesen im weiteren Verlauf einen kleinen traditionellen Liebesroman, der mit der Trauung auf einer Polizeistation endet und dann sogleich verfliegt. Ein ähnlicher Vorgang ließ sich in der Ortschaft W. nicht wiederholen, ohne daß der Ruf des Dichters nachhaltig Schaden genommen hätte. Von der wortkargen Dame erfahren wir vorsichtshalber rein gar nichts, nicht das Alter, nicht den Namen, nicht ob hager oder füllig, groß oder klein, es bleibt die freie Wahl, sie eher auf der Seite der Signora im Mailand oder eher auf der Seite Lucianas zu sehen. Der mißbilligende Blick scheint hin zur Seite der Signora zu weisen, aber wie die Erfahrung aus Leben und Literatur gleichermaßen zeigt, können Blicke zweideutig sein, zweideutig auch die mit der Hand zusammengehaltene Strickjacke, die sich als Abwehr und Einladung zugleich deuten ließe, ohne daß die Trägerin der Jacke sich über die doppelte Lesart im Klaren sein müßte. Den Leser, der seinem Vergnügen folgt, drängt es naturgemäß, Limone und nicht Mailand den Vorrang zu geben.

Die wortkarge Dame ist die geheimnisvollste von allen, die Szene mit Frau Elmenbach hingegen ist ausgemalt und abgeschlossen, ein Anlaß zu weiterem Nachsinnen besteht nicht. Das macht den Unterschied.

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