Donnerstag, 6. Juni 2019

Politeia

Menschenzahl

Unbestritten hat der Dichter im Hinblick auf die Verdammung des Nationalsozialismus mehr getan als nur seine Pflicht, einige aber vermissen seine Begeisterung für die nun triumphierende Demokratie und insbesondere auch für das Friedensprojekt EU. Nirgends seien ihm so viele Krüppel und Irre begegnet wie in Brüssel, läßt er wissen, kaum ein habitueller Brüsselfahrer wird das als realen Anblick bestätigen, als Metapher kann es nicht lobend gemeint sein. Nach Einschätzung des Dichters ist die Menschheit wohl nicht imstande, sich in eine vertretbare Lage zu bringen. Eine Berechnung aus diesen Tagen, wonach der Mensch und sein Schlachtvieh inzwischen 90% der Gesamtsäugetierbiomasse ausmachen, hätte er als Bestätigung gelesen. Wurden die großformatigen Meeressäuger, die eine nicht geringe Tonnage zusammenbringen, in die Berechnung einbezogen? Wie auch immer, der Dichter leistet seinen Beitrag zu einer sich erholenden Biodiversität, indem er die Städte entvölkert und so die Übermacht des Menschen einschränkt. Den ganzem Morgen begegnete ihm niemand in den schnurgraden verlassenen Straßen, außer einem Geistesgestörten in einem abgerissenen Anzug, der ihm zwischen den Linden de Brunnenparks über den Weg lief: wenn Terezín menschenleer ist, mag das nicht so sehr überraschen, aber in Manchester ist es kaum anders, wenn die Nacht einkehrt, beginnen an verschiedenen Stellen Feuerchen zu flackern, um die als unstete Schattenfiguren Kinder herumstehen und -springen, das ist alles, sonst ist niemand zu sehen. Prag ist für den Augenblick noch bevölkert, aber die Menschen sehen krank und grau aus und sind offenbar nicht mehr weit von ihrem Ende entfernt, auch hier herrscht bald Frieden. In Indonesien tun großflächige Brände das Ihrige, weltweit fahren Motorfahrzeuge bereits führer- und insassenlos dahin.

Als Sokrates sich im Auftrag Platons daranmachte, die verschiedenen Regierungsformen zu erforschen und zu bewerten, war in der Polis die Bedrängnis der Menschen durch die Natur als Umwelt überwunden, eine Bedrängnis der Natur durch die Menschen als Umwelt war noch nicht in Sicht. Die Demokratie schnitt bei dieser frühen Überprüfung nicht gut ab, und niemand konnte voraussehen, daß sie Jahrtausende später als anbetungswürdige Staatsform die Nachfolge der anbetungswürdigen Götter antreten sollte. In der Zwischenzeit hatten sich, schließt man sich der Deutung Luhmanns an, innergesellschaftliche Umwelten herausgebildet, die Ökonomie als Umwelt der Politik und umgekehrt, das Recht als Umwelt der Religion und, übergreifend, die Menschen als Umwelt der Gesellschaft und umgekehrt die Gesellschaft als Umwelt der Menschen; dieser Umweltbegriff hat, was nicht gegen ihn spricht, kaum Breitenwirkung erreicht. Zuvor war mit Shaftesbury und, in voller Blüte, mit Rousseau die Natur als nette, dem Menschen freundlich gesonnene Umwelt zurückgekehrt, um aber sogleich vom sich in Szene setzenden Maschinenzeitalter und von Manchester als dem neuem, damals noch gut bevölkerten Jerusalem wieder verschlungen zu werden. Die Demokratie ist in Platons Augen nur die letzte Auffangstufe vor dem Absturz in die Tyrannei und weit entfernt von der Kallipolis. Badiou, bien culloté, sieht in seiner Neufassung der Politeia die Vorstellung der Kallipolis durch einen künftigen Kommunismus, der sich darstellt als die herrschaftslose Herrschaft der Philosophen, dergestalt daß alle Menschen wahre Philosophen werden. Das kann nicht uns betreffen, eine neue Spezies ist in die Welt gesetzt. Mit der von einer Unzahl von Menschen bedrängten Natur als Umwelt beschäftigt Badiou sich nicht, es ist kein genuines Thema der Kommunisten, und Badiou war wohl schon zu alt, als das Thema der unter den Menschen leidenden Natur unwiderruflich auf die Agenda kam.

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