Mittwoch, 20. November 2019

Aufbruch

Nördliche Gegend

Eine eher nördlich anmutende Gegend erhebt sich in den blauen Himmel des Freskos, das Pisanello über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini der Chiesa Sant’Anastasia gemalt hat. Bei den hellgrauen Gebäuden mit den Türmen, Kuppeln und Zinnen könnte es sich um eine Burganlage des Brenin Arthur handeln. Die Szenerie im Vordergrund ist die des Aufbruchs. Vertraut man den Berichten des Mabinogion, so sind die Ritter in den Burgen und Schlössern mit kaum mehr beschäftigt als mit Tafeln, Zechen und Würfel- oder Brettspiel, das Verlangen nach Abwechslung ist mehr als verständlich. In der Mehrzahl der Fälle bricht ein einzelner Ritter auf, wenn die Situation es erfordert aber auch eine ganze Schwadron. Als Geraint sich aufmacht, das Herzogtum seines Vaters in Kernow zu stabilisieren, wird er aus gegebenen Grund begleitet von Gwalchmai fab Gwyar, Rhigone fab Brenin Iwerddon, Ondiaw fab Dug Bwrgwyn, Hywel fab Emyr Llydaw, nicht zu vergessen Cai fab Cynyw, und einem Dutzend weiterer schlagkräftiger Recken. Warum allerdings der von Pisanello dargestellte Ritter, vorgeblich San Giorgio oder auch San Siôr, sich von einer Schar verwegen aussehender Gestalten begleiten läßt, bleibt unklar. Auf all den ungezählten Bildern, die die Tötung des Drachen dokumentieren, ist Giorgio oder Siôr allein mit der Bestie, wo sind unterdes der Kalmücke und die anderen sechs von Pisanello gemalten Berittenen geblieben? Würde man nicht auf der linken Hälfte des Freskos, wenn auch nur verwaschen, den Drachen erkennen, käme man womöglich gar nicht auf die Idee, in dem mit einer stattlichen Begleitung aufbrechenden Ritter San Siôr zu erkennen. Vielleicht hat sich Geraint mit einem Teil seiner Mannschaft auf das Fresko verirrt. - So oder so, das Untier wird liquidiert, doedd dim trugaredd i neb.

Der einsam aufbrechende Ritter hat in der Regel als Ziel die Ausschaltung eines Elements des Bösen vor Augen, ab und zu bricht er aber auch nur zu seinem Vergnügen auf. Owain lehnt höflich ab, als die Gräfin ihn einlädt, bei ihr zu bleiben, er wolle, so sagt er, durch Landschaften und Wüsten, durch Täler und über Höhen streifen. Immer wieder sind es anmutige Bachtäler, die die Dahinreitenden betören. Die Eingangssequenz vieler Westernfilme vermittelt uns einen authentischen Eindruck dieses Erlebens. Eine zerklüftete Landschaft, in der Ferne taucht hinter einem Felsvorsprung ein beweglicher Punkt auf, der Punkt rückt näher und wird größer, es ist ein Reiter, er zieht an uns vorbei, die Kamera folgt ihm beim Abstieg in ein Flußtal, er durchquert den Fluß, am anderen Flußufer tut sich ein weite Ebene auf, das Pferd verfällt in einen schnellen Trab, &c., ginge es nach uns, so könnte er immerfort so weiterreiten. Den mittelalterlichen Reiter trägt es von Schloß zu Schloß, andere Siedlungsformen werden kaum wahrgenommen, einmal werden im Mabinogion mähende Bauern am Wegrand erwähnt, dieses soziale Ungleichgewicht hat sich im Interesse der aufkeimenden Demokratie bei den moderneren Reitern der Neuen Welt geändert. Der Unterschied zwischen dem mit einem bestimmten Ziel und dem grundlos aufgebrochenen frühmittelalterlichen Ritter war nicht groß, auch der zu seiner Freude und zum Zeitvertreib Aufgebrochene trifft bald auf eine Herausforderung, der er sich stellen muß, ein marodierender schwarzer Ritter etwa oder eine fatale Bestie. Es sind aber nicht nur Mächte des Bösen, auf die der Ritter trifft, mit traumwandlerischer Sicherheit begegnet ihm alsbald schon das schönste Mädchen des von Menschen bewohnten Teils der Welt. Auch Siôr muß, wie das Bild belegt, im Interesse seines Jagdauftrags Abschied nehmen von einer ihm erkennbar wohlgesonnenen Schönen.

Wir treffen Adroddwr, den Erzähler, erstmals in Wien, aufgebrochen ist er, wie sich aus verschiedenen Hinweisen erschließen läßt, im Südosten Englands. Er reist immer allein, ein Aufbruch in oder mit einem Gefolge wie dargestellt auf dem Fresko über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini der Chiesa Sant’Anastasia ist unvorstellbar in seinem Fall. Von Wien aus bricht er auf nach Venedig, von Venedig nach Verona. Auch er, obwohl unterwegs ohne erkennbares Ziel, trifft, ohne daß er das gewollt hätte und ohne dem gewachsen zu sein, auf die Mächte des Bösen. Immer wieder hat er den Eindruck, zwei ihm feindlich gesonnene Augenpaare hätten ihn im Visier. Er stellt sich dem Übel nicht, sondern ergreift die Flucht, blamabel für den Ritter, der er allerdings nicht ist. Bei der zweiten Reise ist er besser aufgestellt. Als zwei junge Männer auf ihn zukommen, und er ihre Hände schon unter seiner Jacke spürt, läßt er die Schultertasche mit einem Schwung derart in sie hineinfahren läßt, daß sie sich nur noch davonmachen können. Zum Lohn für sein ritterliches Verhalten, so kann man es deuten, trifft er den unter dem Decknamen Giorgio Santini reisenden Giorgio oder Siôr als lebendige Gestalt in deutschen Konsulat zu Mailand. Diese Auszeichnung ist für Adroddwr nichts anderes als der Ritterschlag. Begegnungen mit den Schönen fehlen nicht. Die Franziskanerin und das junge Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern, von vollendeter Schönheit waren sie beide. Dann die Winterkönigin, dumm und stumm ist er dagestanden wie einst der von seiner besorgten Mutter in Ahnungslosigkeit gehaltene Peredur fab Efrog zu Beginn seiner später dann glänzenden Laufbahn. Die Begegnung mit Luciana Michelotti schließlich hat etwas von Trystan ac Esyllt, der Zaubertrank ist offenbar dem dem Reisenden immer wieder gereichten Ristretto beigegeben.

Eindrücke und Erwägungen dieser Art stellen sich ein, wenn man die Schwindel.Gefühle aus der Perspektive des Freskos über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini der Chiesa Sant’Anastasia unter besonderer Berücksichtigung der nördlich anmutende Gegend betrachtet, zugestandenermaßen eine mehr als exzentrische Perspektive.

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