Wahrheit
Vornan bei seinen Erinnerungen an die Kindheit sieht Bereyter sich auf einem Dreirädchen durch das Emporium seines Vaters fahren, rein alles gab es dort zu kaufen vom Bohnenkaffee bis zum Kragenknopf. Auf seinem Dreirad bewegte er sich meist auf der untersten Ebene, durch die Schluchten zwischen den Ladentischen, Kästen und Budeln und durch eine Vielfalt von Gerüchen hindurch, unter denen der des Mottenkampfers sowie der Maiglöckchenseife immer die hervorstechendsten gewesen sind. Einfluß auf sein weiteres Leben hatte das Emporium nicht, seine Zukunft sah er schon bald nicht dem Vater folgend im Emporium, sondern als Lehrer an den Schulen, er war, wie Mme. Landau immer wieder betonte, ein geborener Kinderlehrer, In Bernhards autobiographischen Erinnerungen ist der Verlauf in mancher Hinsicht entgegengesetzt. Im Alter nur ein wenig fortgeschritten hat er es nicht mit einem Dreirad, sondern mit einem Steyr-Waffenrad zu tun, das er nach eigener Einschätzung bald schon beherrscht wie kein zweiter. Er sieht seine Zukunft schon als Radvirtuose, bis ihm auf einer steilen Abfahrt die Kette reißt und er sich blut- und ölverschmiert im Straßengraben wiederfindet. An ein Umsatteln vom Rad auf Kindererziehung nach dem Vorbild Bereyters ist nicht zu denken. Die Schulpflicht erledigt er lustlos, nur dem Wunsch des Großvaters folgend besucht er für ein Jahr das Gymnasium und wirft dann hin, wie man sagt, und zwar mit der Absicht, seine Existenz in eine nützliche Existenz als Lehrling in einem Kolonialwarengeschäft zu verwandeln, ein klares Zeichen der Ungeduld, denn naturgemäß kann auch ein lang andauerndes Studium der Medizin im Endeffekt zu einer nützlichen Existenz führen. Neben der Nützlichkeit wird schon bald die Frage der Wahrheit aufgerufen. Zeitlebens habe er die Wahrheit sagen wollen, auch wenn er jetzt wisse, daß es immer zu einem Teil gelogen war. Ähnlich hat Stachura in der Erzählung Los Niezłomny geklagt, alles was er sage, sei wahr, aber die Wahrheit sei größer. Die ganze Wahrheit kenne er nicht. Wer sie kennt, soll es sagen, denn er, Stachura, kenne sie nicht. Mit einem umfassenden Wahrheitskenner ist unter den Menschen aber wohl nicht zu rechnen, es liest sich, ein Teilstück bleibt unbekannt und auf immer verborgen. Zurück zu Bernhard. Naturgemäß ist eines seiner Leitworte vor allem dann, wenn nichts der Natur gemäßes in Sicht ist, eindrucksvoller noch: das ist die Wahrheit, hunderte Mal wird es im Gesamtwerk verkündet, uneingeschränkt trifft es wohl wie nie zu. Seine Übertreibungstechnik umhüllt die Frage von Wahrheit und Unwahrheit wie ein Luftkissen. Niemand stößt auf festen Grund, jeder aber mag abwägen, wo die Wahrheit endet. Die Frage der Wahrheit wird schon früh angeschnitten und sie dominiert auch noch den letzten Satz: Manch mal erheben wir alle unseren Kopf und glauben, die Wahrheit oder die scheinbare Wahrheit sagen zu müssen und ziehen ihn wieder ein. Das, so der Autor, ist alles.
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