Mittwoch, 3. August 2016

Kartenspieler

Hut auf, Hut ab

Erst die Arbeit, dann das Spiel. Der Großvater behielt nach einer alten Gewohnheit zum Kartenspielen immer den Hut auf dem Kopf. Erst wenn mit dem Spielen aufgehört wurde und die Mathild in die Küche hinausging, den Kaffee zu kochen, nahm er den Hut ab. Also wäre das Kartenspiel die Arbeit, auf die dann die Erholung beim Kaffee folgt, und, in der Tat, leicht erscheint ja den Kindern, wie manch einer sich erinnern wird, das Kartenspiel als ein besonders wichtiges und ernstes Geschäft der Erwachsenen.

Für die Ernsthaftigkeit des Kartenspiels ist allerdings das Spiel zu zweit nicht die gelungenste Konstellation. Das Wesen aller Kartenspiele beruht letztlich darauf, daß man nicht weiß, wo die Karten sind, die man nicht selbst in der Hand hält. Beim Spiel zu zweit können sie aber, abgesehen von den im Stock verbleibenden Spielkarten, nur beim Gegenüber sein. Verzwicktere Spiele wie Schlesisch Bridge oder Schafskopf haben denn auch drei und mehr Teilnehmer. Einer Vermehrung der Spielerzahl kommt bei dem Spiel, das wir vor Augen haben, aber nicht in Betracht. Wer sollte das Duo ergänzen? Der Enkel, der den Großvater immer begleitet und der, zu Jahren gekommen, uns berichtet von der Angelegenheit, ist schlicht noch zu jung und die Babett und die Bina haben kaum das Kartenspielertemperament. Sie sind denn auch gehalten, für die Zeit des Besuches zur Vermeidung von Störungen mit der Küche Vorlieb zu nehmen. Die Babett, die ohnehin den ganzen Tag in der Küche sitzt und Geschirrtücher zusammenfaltet, trifft es nicht besonders hart, anders sieht es aus bei Bina, die üblicherweise mit den Händen ihren Kleiderschurz glattstreichend fortwährend im Haus und im Garten herumrennt. Es bleibt zu hoffen, daß die Küche, wenn schon an das Herumrennen im Haus für den Augenblick nicht zu denken ist, einen direkten Ausgang zum Garten hat.

Man kann unterstellen, der Großvater ist verwitwet. Ein verheirateter Mann, der einmal in der Woche eine andere, unverheiratete Frau zum Kartenspiel oder, wie es schnell geheißen hätte, vorgeblich zum Kartenspiel aufsucht, wäre in einem bayerischen Dorf in den frühen fünfziger Jahren nicht gut denkbar gewesen. Ernstlich ist anzunehmen, daß es sich bei der Mathild und dem Großvater um verwandte Seelen gehandelt hat und daß es letzten Endes weniger um das Kartenspiel, als um die anschließenden langen Gespräche beim Kaffee gegangen ist. Worüber die beiden sich unterhalten, erfahren wir nicht. Selbstredend sind die Babett und die Bina auch von diesem zweiten Teil der Veranstaltung ausgeschlossen. Der Enkel sitzt zunächst dabei, kann sich aber von dem, was erörtert wird, nur die unzulänglichsten Vorstellungen machen und zieht sich bald zurück. Offensichtlich also geht es nicht um das Wetter. Der Großvater richtet jeden Morgen, wenn er aus dem Haus tritt, den Blick prüfend zum Himmel, das reicht aus für den Tag. Die Mathild hatte in frühen Jahren mit den wichtigen geistigen Strömungen des Katholizismus und des Kommunismus Bekanntschaft gemacht. Zunächst war sie in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hatte das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten. Mit beiden Vorstellungskomplexen, dem frommen und dem unfrommen war die Begegnung offenbar nicht glückhaft, was sie aber als Grundlage für weitere Diskussionen auch Jahrzehnte danach keineswegs ausschließt. Die belletristischen Anteile in der nachgelassenen Bibliothek der Mathild waren, wie sich später zeigen wird, eher gering und rechtfertigen nicht die Annahme, Literaturkundliches oder Literaturschwärmerisches hätte die Debatten befeuert. Welche anderen Gesprächsmöglichkeiten bestanden noch nach dem Krieg in der Adenauerzeit, wenn das Spiel aus und die Karten niedergelegt waren?

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