Donnerstag, 15. Dezember 2016

Augsburg

Zirkusstadt

Im Halbschlaf noch tauchte in mir eine Freilichtaufführung der Aida auf, die ich als Kind in Begleitung der Mutter in Augsburg gesehen und von der ich nichts in der Erinnerung behalten hatte. Der Triumphzug, bestehend aus einem armeseligen Reiterkontingent und einigen gramgebeugten, für diese Aufführung eigens vom Zirkus Krone entlehnten Kamelen und Elefanten, machte, ganz so als sei er immer unvergeßlich gewesen, vor meinen Augen mehrmals die Runde und versetzte mich, nicht anders als damals, in einen tiefen Schlaf. - Die Augsburger Szene ist bislang nicht in den Fokus der Sebaldforschung gerückt worden, eine endgültige Deutung steht noch aus. Zumindest aber hatte sie den Stadtoberen und Bewohnern von Augsburg keinen konkreten Anlaß zur Beanstandung geboten, auch wenn die Behandlung der Stadt selbst ein wenig karg bleibt. Das war anders, als Bernhard den Zirkusdirektor Garibaldi auf Augsburg zurücken ließ. Er, der Zirkusdirektor, und nicht etwa Bernhard, schilt die Stadt Augsburg dabei unter anderem ein muffiges verabscheuungswürdiges Nest und eine Lechkloake. Das rief die Verantwortlichen auf den Plan und brachte die Bürgerschaft zum Kochen. Der Bürgermeister, stilistisch und argumentativ durchaus auf der Höhe, wandte sich an den Verleger Unseld, die Mozartgemeinde Augsburg an die Festspielleitung Salzburg, der Landrat an den bayerischen Ministerpräsidenten, der dann doch genug politischen Instinkt hatte, keine weiteren Schritte zu unternehmen. Die Leserbriefkästen der Augsburger Zeitungen blieben für längere Zeit prall gefüllt. Allen galt als sicher, Bernhard selbst habe die bösen Worte getätigt und nicht etwa der unverkennbar im Kopf nicht ganz koschere Garibaldi. Das zeigt, wie wenig auch unter auf ihre Weise durchaus klugen Leuten ein genuines Literaturverständnis verbreitet ist. Und selbst wenn Bernhard die Worte auf seine eigene Kappe genommen hätte?

Sebald, der im allgemeinen umstandslos mit seinem Erzähler identifiziert wird, läßt seinen Zorn oder doch den des Herrn auf Brüssel niederfahren: Wen kann es wundern, wenn es in Belgien bis auf den heutigen Tag eine besondere, von der Zeit der ungehemmten Ausbeutung der Kongokolonie geprägte, in der makabren Atmosphäre gewisser Salons und einer auffallenden Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit gibt, wie man sie anderwärts nur selten antrifft. Jedenfalls entsinne ich mich genau, daß mir bei meinem ersten Besuch in Brüssel im Dezember 1964 mehr Bucklige und Irre über den Weg gelaufen sind als sonst in einem ganzen Jahr. – Auch hier hat es nicht an Mahnungen gefehlt, den unverkennbaren demokratischen Fortschritt, den Belgien mittlerweile in einem freien und demokratischen Europa gemacht habe, nicht aus dem Auge zu verlieren. Auch Bernhard erhebt auf seine Art Einwände: Ist Ihnen denn nicht aufgefallen, daß nirgends auf der Welt so viele Krüppel herumlaufen wie in Lissabon?

Den Unterschied zwischen Literatur und anderen Textgebilden hat anläßlich des Augsburger Vorfalls Bernhard selbst konzis auf den Punkt gebracht. Ihm der ja gern den Dichtermodus als Lebensweise in den Alltag übertragen hat, war durchaus zuzutrauen, er würde die Beschimpfungen unter dem eigenen Namen noch einmal erheblich steigern. Er hat aber den entgegengesetzten stillen Weg gewählt. Unangemeldet ist er bei der Augsburger Zeitung aufgetaucht, um, nachdem er sich versichert hatte, daß diese Humor verstünde, bei der zuständigen Redakteurin vorzusprechen. Bestens gelaunt und höflich hat er bekannt, von Augsburg so gut wie gar nichts zu wissen. Es hätte ebensogut Nürnberg oder Bamberg sein können, vom Klang und der Kadenz her habe aber Augsburg am besten gepaßt. Aus literarischer Sicht sei Augsburg also nur ausgezeichnet worden, und da nun einmal der Lech durch Augsburg fließt, habe er auf das schöne Wort Lechkloake vernünftigerweise nicht verzichten können.

Kunst unterscheidet sich in jedem Fall vom Ingangsetzen einer sprachlichen Kommunikation dadurch, daß sie im Medium des Wahrnehmbaren oder Anschaulichen operiert, ohne die spezifische Sinnleitung der Sprache in Anspruch zu nehmen. Das gilt auch und noch viel dramatischer, weil weniger selbstverständlich, für alle Wortkunst, für Dichtung. Die Aussage eines Dichtwerks läßt sich nicht paraphrasieren, nicht in der Form eines Satzes zusammenfassen, der dann wahr oder falsch sein kann: dem Zirkus näher als der Verlautbarung, so einfach und klar das ist, kaum jemand will es verstehen.

Keine Kommentare: