Gebeugt
Früher habe es, wie der Dichter sich gern erinnert, in fast jedem Ort einen Buckligen gegeben, der im Gemeinschaftsleben eine wichtige Rolle spielte. Aus der Zeit der eigenen Kindheit könne er sich an vier oder fünf Bucklige erinnern. In gewissem Sinne war er denn auch beglückt, als ihm bei seinem ersten Besuch in Brüssel im Dezember 1964 mehr Bucklige über den Weg gelaufen sind als sonst in einem ganzen Jahr. Nehmen wir für Brüssel auch nur die Mindestzahl von zwei gesehen Buckligen an, so kommen wir im Gesamtwerk, rechnet man zu den Buckligen im engeren Sinn die vom Morbus Bechterew Gebeugten hinzu, auf eine Zahl, die höher liegt als die der aus der Kindheit Erinnerten. Wir haben den Cicerone in Verona, der bucklig war und so stark vornübergebeugt, daß sein um vieles zu großes Jackett mit dem vorderen Saum bis an den Boden reichte; in Ithaca den greisen Portier, der so stark vornübergebeugt ging, daß er mit Sicherheit nicht imstand war, von seinem Gegenüber mehr als die Beine und den Unterleib wahrzunehmen; den Mann mit einem riesigen Buckel, der vor dem Erzähler im Flugzeug nach Calvi sitzt; und die krumme alte Frau auf dem Flug nach Wien, die von der Bechterewschen Krankheit so stark vornübergebeugt war, daß sie von rückwärts aussah, als habe sie keinen Kopf. Einerseits sind die Buckligen und Gebeugten Einschränkungen unterworfen, nicht okular bedingten Sehbehinderungen etwa, die dementsprechend kein Augenarzt heilen kann, andererseits scheinen sie über magische Kräfte zu verfügen. Als der Erzähler dem greisen Portier auf der wunderbaren Mahagonistiege folgt hatte er auf ihr gar nicht das Gefühl des Treppaufgehens, es war ihm, als schwebte gewissermaßen hinan. Als er nach einer schnellen Fahrt vom Flugplatz aus im Mietwagen das Hotel auf Korsika erreicht, ist der Bucklige, der länger noch am Gepäckförderband hatte warten müssen, zu seinem nicht geringen Erstaunen dort bereits eingetroffen. Auch in den nächsten Tagen ist der Bucklige bei allen möglichen Gelegenheiten immer als erster zur Stelle. Und ebenso die kopflose krumme Alte. Obwohl sie nach ihm am Bahnhof Liverpool Street ausstieg, saß sie bereits vor ihm in der Circle Line. Auf dem Flug nach Wien saß sie neben ihm. Als er drei Tage später von Graz nach Schwechat zurückkam, war sie auch wieder da. In der U-Bahn dann und auf der Fahrt nach Norwich verbarg er sich, entsetzt und voller Angst, sie erneut zu sehen, hinter einer Zeitung. Was hat es auf sich mit der Zauberkraft der Buckligen und Gebeugten?
Trotz der Schmerzen zog er sich mühsam an der Fensterbrüstung empor. In der krampfhaften Haltung eines Wesens, das sich zum ersten Mal von Erde erhoben hat, stand er dann gegen die Glasscheibe gelehnt, ähnlich dem armen Gregor, der, mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd, aus seinem Kabinett hinausblickte. Der drohenden Käferverwandlung kann der Dichter sich entziehen, die metamorphosenreichen holometabolen Kerbtiere, insbesondere die Falter, Seidenraupen, Motten und Schmetterlinge bleiben aber, in den verschiedenen Phasen ihres gestaltreichen Lebenslaufes, reichlich im Werk vertreten, Metamorphosen, vor denen, wie wir von Ovid und Kafka eben wissen, auch wir Menschen nicht gefeit sind, oder auf die wir, anders gesehen, vielleicht hoffen können. Vielleicht, so mag man denken, befinden sich die Buckligen und Gebeugten in einer bestimmten Phase eines Verwandlungsvorgangs. Es scheint, als wollten sie sich einrollen, die Gestalt eines Rades, besser noch, angesichts ihrer Dreidimensionalität, einer Kugel annehmen: Kugelmenschen, wie man ihnen in der Antike noch begegnen konnte. Ein Menschenleben reicht aber wohl nicht hin, um die Rückverwandlung abzuschließen, die die furchtbare Separation der Geschlechter wieder aufheben würde, ist doch in den Augen des Dichters das Geschlecht das Unglück sogar der Heiligen. Andernorts aber, am Meeresufer, lag drunten ein riesenhaftes Ewas auf dem Grund der Grube, ungestalt gleich einer großen, ans Land geworfenen Molluske, scheinbar ein Leib, ein von weit draußen hereingetriebenes, vielgliedriges, doppelköpfiges Seeungeheuer, letztes Exemplar einer monströsen Art, das mit flach den Nüstern entströmenden Atem seinem Ende entgegendämmert. Sollte es der Kadaver eines Kugelmenschen sein? Tatsächlich und naturgemäß ist es ein hinreichend lebendiges Menschenpaar, das gerade mit den so üblichen und beliebten wie untauglichen Mitteln gegen die Separation der Geschlechter angekämpft hatte und nun ausruht. Die Angelegenheit ist verfahren.
Früher habe es, wie der Dichter sich gern erinnert, in fast jedem Ort einen Buckligen gegeben, der im Gemeinschaftsleben eine wichtige Rolle spielte. Aus der Zeit der eigenen Kindheit könne er sich an vier oder fünf Bucklige erinnern. In gewissem Sinne war er denn auch beglückt, als ihm bei seinem ersten Besuch in Brüssel im Dezember 1964 mehr Bucklige über den Weg gelaufen sind als sonst in einem ganzen Jahr. Nehmen wir für Brüssel auch nur die Mindestzahl von zwei gesehen Buckligen an, so kommen wir im Gesamtwerk, rechnet man zu den Buckligen im engeren Sinn die vom Morbus Bechterew Gebeugten hinzu, auf eine Zahl, die höher liegt als die der aus der Kindheit Erinnerten. Wir haben den Cicerone in Verona, der bucklig war und so stark vornübergebeugt, daß sein um vieles zu großes Jackett mit dem vorderen Saum bis an den Boden reichte; in Ithaca den greisen Portier, der so stark vornübergebeugt ging, daß er mit Sicherheit nicht imstand war, von seinem Gegenüber mehr als die Beine und den Unterleib wahrzunehmen; den Mann mit einem riesigen Buckel, der vor dem Erzähler im Flugzeug nach Calvi sitzt; und die krumme alte Frau auf dem Flug nach Wien, die von der Bechterewschen Krankheit so stark vornübergebeugt war, daß sie von rückwärts aussah, als habe sie keinen Kopf. Einerseits sind die Buckligen und Gebeugten Einschränkungen unterworfen, nicht okular bedingten Sehbehinderungen etwa, die dementsprechend kein Augenarzt heilen kann, andererseits scheinen sie über magische Kräfte zu verfügen. Als der Erzähler dem greisen Portier auf der wunderbaren Mahagonistiege folgt hatte er auf ihr gar nicht das Gefühl des Treppaufgehens, es war ihm, als schwebte gewissermaßen hinan. Als er nach einer schnellen Fahrt vom Flugplatz aus im Mietwagen das Hotel auf Korsika erreicht, ist der Bucklige, der länger noch am Gepäckförderband hatte warten müssen, zu seinem nicht geringen Erstaunen dort bereits eingetroffen. Auch in den nächsten Tagen ist der Bucklige bei allen möglichen Gelegenheiten immer als erster zur Stelle. Und ebenso die kopflose krumme Alte. Obwohl sie nach ihm am Bahnhof Liverpool Street ausstieg, saß sie bereits vor ihm in der Circle Line. Auf dem Flug nach Wien saß sie neben ihm. Als er drei Tage später von Graz nach Schwechat zurückkam, war sie auch wieder da. In der U-Bahn dann und auf der Fahrt nach Norwich verbarg er sich, entsetzt und voller Angst, sie erneut zu sehen, hinter einer Zeitung. Was hat es auf sich mit der Zauberkraft der Buckligen und Gebeugten?
Trotz der Schmerzen zog er sich mühsam an der Fensterbrüstung empor. In der krampfhaften Haltung eines Wesens, das sich zum ersten Mal von Erde erhoben hat, stand er dann gegen die Glasscheibe gelehnt, ähnlich dem armen Gregor, der, mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd, aus seinem Kabinett hinausblickte. Der drohenden Käferverwandlung kann der Dichter sich entziehen, die metamorphosenreichen holometabolen Kerbtiere, insbesondere die Falter, Seidenraupen, Motten und Schmetterlinge bleiben aber, in den verschiedenen Phasen ihres gestaltreichen Lebenslaufes, reichlich im Werk vertreten, Metamorphosen, vor denen, wie wir von Ovid und Kafka eben wissen, auch wir Menschen nicht gefeit sind, oder auf die wir, anders gesehen, vielleicht hoffen können. Vielleicht, so mag man denken, befinden sich die Buckligen und Gebeugten in einer bestimmten Phase eines Verwandlungsvorgangs. Es scheint, als wollten sie sich einrollen, die Gestalt eines Rades, besser noch, angesichts ihrer Dreidimensionalität, einer Kugel annehmen: Kugelmenschen, wie man ihnen in der Antike noch begegnen konnte. Ein Menschenleben reicht aber wohl nicht hin, um die Rückverwandlung abzuschließen, die die furchtbare Separation der Geschlechter wieder aufheben würde, ist doch in den Augen des Dichters das Geschlecht das Unglück sogar der Heiligen. Andernorts aber, am Meeresufer, lag drunten ein riesenhaftes Ewas auf dem Grund der Grube, ungestalt gleich einer großen, ans Land geworfenen Molluske, scheinbar ein Leib, ein von weit draußen hereingetriebenes, vielgliedriges, doppelköpfiges Seeungeheuer, letztes Exemplar einer monströsen Art, das mit flach den Nüstern entströmenden Atem seinem Ende entgegendämmert. Sollte es der Kadaver eines Kugelmenschen sein? Tatsächlich und naturgemäß ist es ein hinreichend lebendiges Menschenpaar, das gerade mit den so üblichen und beliebten wie untauglichen Mitteln gegen die Separation der Geschlechter angekämpft hatte und nun ausruht. Die Angelegenheit ist verfahren.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen