Mittwoch, 8. Februar 2017

Trauerarbeit

Squirrel

In kleiner Runde hatte man darüber gesprochen, daß heute niemand mehr Trauer trägt, nicht einmal ein schwarzes Armband oder einen schwarzen Knopf im Revers. Auch greift, vor allem in den gebildeten Kreisen, die Aufforderung immer mehr um sich, von Kränzen und Gebinden abzusehen und stattdessen für die Krebshilfe oder das Müttergenesungswerk zu spenden. Alle Macht den Lebenden. Anne erinnerte sich an einen gewissen Mr. Squirrel, der immer Trauer getragen hatte, auch in seiner Jugendzeit schon, als er noch kein Leichenbestatter war. Dabei verfügte Squirrel über keinerlei Gedächtnis, so daß er sich an nichts erinnern konnte, nicht an das, was in seiner Kindheit, im Vorjahr, im vergangenen Monat oder in der letzten Woche sich zugetragen hatte. Wie er der Toten gedenke war somit ein Rätsel, auf das niemand eine Antwort wußte. Anne ist sich wohl nicht im Klaren über den näheren Bezug des Squirrel zum Thema der allgemein nachlassenden Trauerkraft, jedenfalls erläutert sie den Bezug nicht, und auch die Runde bemüht sich nicht um eine weitergehende Exegese.

Mr. Squirrel ist eine Janusgestalt. Von der Kleidung her ist er der traditionelle Mensch mit engem Bezug zur Totenwelt, wie er auch sonst in den Ringen des Saturn und im Werk des Dichters insgesamt gut vertreten ist. Aufgrund einer krankhaften Gedächtnisschwäche ist er der ideale moderne Mensch, der die Vergangenheit nicht kennt, der Gegenwart ungeschmälert zugewandt ist und der sich im Trauerfall nach einer möglichst kurz bemessenen sogenannten Trauerarbeit der pflichtgemäßen Lebensfreude wieder ganz zur Verfügung stellt. Das ist der Menschentyp, den der Dichter schaudernd vor Augen hat und den er in einem nächsten Schritt in der Maschinenwelt verschwinden sieht.

Anders als ein Name es vermuten ließ, war Squirrel nicht etwa besonders eilfertig und behende, sondern ein finsterer und schwerfälliger Riese und auch mit der schönen Dualität von Trauerkleidung und Gedächtnislosigkeit ist kein angemessenes Bild von ihm gezeichnet. Von klein auf hatte er den Wunsch gehegt, Schauspieler zu werden, ein schon wegen der Notwendigkeit, Texte zu memorieren, nach Ende der Stummfilmzeit für einen Gedächtnislosen nicht leicht zu erreichendes Ziel. Tatsächlich aber ist es ihm gelungen, bei einer Freilichtaufführung des King Lear eine kleine, aber nicht völlig stumme Rolle zu ergattern und nicht nur hat die zwei von ihm zu verantwortenden Sätze auf das eindringlichste vorgetragen, er hat sie auch Jahrzehnte später noch den Passanten auf der anderen Straßenseite als eine Art Gruß triumphierend zugerufen. Er hatte seinen Platz in der darstellenden Kunst gefunden, den Platz eines Komparsen zweifellos, aber wie wir wissen, ist den Komparsen die gleiche uneingeschränkte Daseinsberechtigung zuzusprechen wie den Hauptdarstellern. Als Künstler aber ist er nicht so einfach auszurechnen wie gedacht.

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