Totenleben
Auf Korsika sehen die Toten auf den ersten Blick aus wie normale Leute, aber sowie man genauer hinschaut, verwischen sich ihre Gesichter oder flackern, gerade wie die Gesichter der Schauspieler in einem alten Film. In Wales gehen Toten fast immer alleine, manchmal ziehen sie aber auch in kleinen Schwadronen herum: in bunten Uniformröcken oder in graue Umhänge gehüllt hat man sie schon gesehen, wie sie zwischen den Feldmauern, die sie nur knapp überragten, mit leisem Rühren der Trommel hinaufmarschierten in die Hügel über dem Ort. Man könnte meinen, ein allgemeines, wen auch gleichsam dialektal differenziertes Bild von der Seinsweise und dem Verhalten der Toten in der Hand zu halten, zumindest was die heidnisch unterfütterten Gegenden der Christenheit anbelangt - man könnte es meinen, wenn nicht Máirtín Ó Cadhain von den Verhältnissen in Irland ein ganz anderes Bild gezeichnet hätte. Hier liegen die Toten sicher in ihren Särgen und Gräbern, den Blicken und Ohren der Allgemeinheit entzogen. Untereinander aber bilden die Bewohner des Friedhofs eine eigene, in ständigem Wortaustausch begriffene Gesellschaft. Ó Cadhains Bericht von den irischen Toten in Cré na Cille (Friedhofserde) ist nichts anderes als ein wortgetreuer Protokollauszug derartiger Unterhaltungen, der dem Dichter vermutlich auf illegalem Wege von einem Sceithire (Whistleblower) zugespielt worden war. Ó Cadhains von vielen als der beste Roman des zwanzigsten Jahrhunderts in irischer Sprache angesehenes Buch ist ihm also bei Licht gesehen ohne viel eigenes Zutun in den Schoß gefallen.
Neues aus der Welt der Lebenden erfahren die Grabbewohner nur von Neuzugängen auf dem Friedhof. Die frischeste Leiche ist die jüngst verstorbene Caitríona Pháidín, die ihre einstige Freundin und Nachbarin Muraed Phroinsiais nun als Grabnachbarin hat. Unaufhaltsam redet Caitríona einher, erklärt Einzelheiten ihrer Beisetzung, schwer nur kann sie es verwinden, offenbar nicht die ihr zugesagte Luxusgrabstätte erhalten zu haben. Der ohnehin bestehende Groll gegenüber ihren noch im Leben verweilenden Verwandten erhält dadurch weiter mächtig Auftrieb, von einer dem traurigen Anlaß angemessenen inneren Einkehr ist nichts zu spüren.
Ach mo léan deacrach ní fhágfaidh an marbh láthair i gcré na cille: Leider können sich die Toten in der irischen Friedhofserde nicht vom Flecken rühren und stellen also das krasse Gegenteil ihrer toten keltischen Brüder und Schwestern in Wales dar, die bunt oder grau gekleidet in Schwadronen recht munter durchs Land ziehen. Aber haben wir auch die richtige Brille auf, haben wir es mit zwei unterschiedlichen Existenzformen der Toten zu tun oder vielmehr nur mit unterschiedlichen Entwicklungsstufen, so wie ja auch die Lebenden, falls sie nicht vorzeitig ins Reich der Toten wechseln, Kindheit, Jugend, Reife und Alter durchlaufen. Es ist gut denkbar, daß sich Caitríona Pháidín und auch die schon seit vier Jahren in der Friedhofserde verwahrte Muraed Phroinsiais noch in der pränatalen Phase des Totenlebens befinden, angesichts der Ewigkeit des Todes besteht, anders als beim kurzen Leben, keine Eile beim Durchlaufen der verschiedenen Abschnitte. Wenn die Zeit gekommen ist, werden sich auch die irischen Toten erheben aus den Gräbern erheben und an den Feldmauern entlangziehen.
Ein Detail würde aber auch dann noch der Erklärung harren. Schwadronen, bunte Uniformröcke: das suggeriert, nur männliche Tote seien unterwegs. Auf keinen Fall aber könnten wir hinnehmen, wenn die Frauen ohne Freigang an ihre Gräber gefesselt blieben. Vielleicht aber bilden sie auch einfach nur die erwähnte und weiter nicht beschriebene Mehrheit, die allein und einsam ihres Weges geht. Caitríona Pháidíns eindeutig nicht auf Abgeschiedenheit angelegtes Wesen und Denken stützt diese Annahme allerdings nicht. Letzten Endes wissen wir derzeit einfach noch zu wenig über das Totenleben, weitere Beobachtungen und Forschungen, empirischer sowohl wie theoretischer Art, sind unerläßlich.
Auf Korsika sehen die Toten auf den ersten Blick aus wie normale Leute, aber sowie man genauer hinschaut, verwischen sich ihre Gesichter oder flackern, gerade wie die Gesichter der Schauspieler in einem alten Film. In Wales gehen Toten fast immer alleine, manchmal ziehen sie aber auch in kleinen Schwadronen herum: in bunten Uniformröcken oder in graue Umhänge gehüllt hat man sie schon gesehen, wie sie zwischen den Feldmauern, die sie nur knapp überragten, mit leisem Rühren der Trommel hinaufmarschierten in die Hügel über dem Ort. Man könnte meinen, ein allgemeines, wen auch gleichsam dialektal differenziertes Bild von der Seinsweise und dem Verhalten der Toten in der Hand zu halten, zumindest was die heidnisch unterfütterten Gegenden der Christenheit anbelangt - man könnte es meinen, wenn nicht Máirtín Ó Cadhain von den Verhältnissen in Irland ein ganz anderes Bild gezeichnet hätte. Hier liegen die Toten sicher in ihren Särgen und Gräbern, den Blicken und Ohren der Allgemeinheit entzogen. Untereinander aber bilden die Bewohner des Friedhofs eine eigene, in ständigem Wortaustausch begriffene Gesellschaft. Ó Cadhains Bericht von den irischen Toten in Cré na Cille (Friedhofserde) ist nichts anderes als ein wortgetreuer Protokollauszug derartiger Unterhaltungen, der dem Dichter vermutlich auf illegalem Wege von einem Sceithire (Whistleblower) zugespielt worden war. Ó Cadhains von vielen als der beste Roman des zwanzigsten Jahrhunderts in irischer Sprache angesehenes Buch ist ihm also bei Licht gesehen ohne viel eigenes Zutun in den Schoß gefallen.
Neues aus der Welt der Lebenden erfahren die Grabbewohner nur von Neuzugängen auf dem Friedhof. Die frischeste Leiche ist die jüngst verstorbene Caitríona Pháidín, die ihre einstige Freundin und Nachbarin Muraed Phroinsiais nun als Grabnachbarin hat. Unaufhaltsam redet Caitríona einher, erklärt Einzelheiten ihrer Beisetzung, schwer nur kann sie es verwinden, offenbar nicht die ihr zugesagte Luxusgrabstätte erhalten zu haben. Der ohnehin bestehende Groll gegenüber ihren noch im Leben verweilenden Verwandten erhält dadurch weiter mächtig Auftrieb, von einer dem traurigen Anlaß angemessenen inneren Einkehr ist nichts zu spüren.
Ach mo léan deacrach ní fhágfaidh an marbh láthair i gcré na cille: Leider können sich die Toten in der irischen Friedhofserde nicht vom Flecken rühren und stellen also das krasse Gegenteil ihrer toten keltischen Brüder und Schwestern in Wales dar, die bunt oder grau gekleidet in Schwadronen recht munter durchs Land ziehen. Aber haben wir auch die richtige Brille auf, haben wir es mit zwei unterschiedlichen Existenzformen der Toten zu tun oder vielmehr nur mit unterschiedlichen Entwicklungsstufen, so wie ja auch die Lebenden, falls sie nicht vorzeitig ins Reich der Toten wechseln, Kindheit, Jugend, Reife und Alter durchlaufen. Es ist gut denkbar, daß sich Caitríona Pháidín und auch die schon seit vier Jahren in der Friedhofserde verwahrte Muraed Phroinsiais noch in der pränatalen Phase des Totenlebens befinden, angesichts der Ewigkeit des Todes besteht, anders als beim kurzen Leben, keine Eile beim Durchlaufen der verschiedenen Abschnitte. Wenn die Zeit gekommen ist, werden sich auch die irischen Toten erheben aus den Gräbern erheben und an den Feldmauern entlangziehen.
Ein Detail würde aber auch dann noch der Erklärung harren. Schwadronen, bunte Uniformröcke: das suggeriert, nur männliche Tote seien unterwegs. Auf keinen Fall aber könnten wir hinnehmen, wenn die Frauen ohne Freigang an ihre Gräber gefesselt blieben. Vielleicht aber bilden sie auch einfach nur die erwähnte und weiter nicht beschriebene Mehrheit, die allein und einsam ihres Weges geht. Caitríona Pháidíns eindeutig nicht auf Abgeschiedenheit angelegtes Wesen und Denken stützt diese Annahme allerdings nicht. Letzten Endes wissen wir derzeit einfach noch zu wenig über das Totenleben, weitere Beobachtungen und Forschungen, empirischer sowohl wie theoretischer Art, sind unerläßlich.
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