Hoch oben
Thomas Bernhard hat praktisch alles beschimpft, was sich beschimpfen läßt, nicht zuletzt die unterschiedlichsten Städte, kleine und große, Städte im Norden und solche im Süden, eine eigene Sammlung seiner Städtebeschimpfungen liegt vor, und dann spricht er unversehens von Warschau als von der dunklen und schönen Stadt. Ein vergleichbares Prädikat wird in Sebalds Werk nicht vergeben, der Leser könnte es am ehesten Konstantinopel zusprechen, so wie es Adelwarth und Solomon auf ihrer Orientreise kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erleben. Von Konstantinopel aus reisen sie weiter in nach Aleppo und von dort nach Beirut. Ihr letztes Reiseziel ist die osmanische Kleinstadt Kudüs, den meisten besser bekannt als Jerusalem. Lediglich ihr Gepäck geben sie in Jaffa auf die erst wenige Jahre zuvor fertiggestellte Bahn, selbst erreichen sie Jerusalem in einem zwölfstündigen Ritt bergauf. Zwölf Stunden bergauf, wen kann es verwundern, wenn es ihnen in der Erinnerung scheint, als blickten sie auf großer Höhe auf die Erde hinab von einem jener Türme, die sich im Himmel verlieren. Was sie aber dort oben auf der Höhe vorfinden, veranlaßt Adelwarth in seinem Tagebuch zu Ausführungen, die in ihrer negativen Sprachgewalt nicht zurückstehen hinter Bernhard, es ist aber nicht die Gestik des Schimpfens, sondern die des Erleidens und der Trauer: Im großen und ganzen ein furchtbarer Eindruck, die neueren Bauten von einer schwer zu beschreibenden Häßlichkeit, in den Straßen große Mengen von Unrat. On marche sur des merdes. Verfall, nichts als Verfall, Marasmus und Leere und sonst einmal ums andere Kirchen, Klöster, religiöse und philanthropische Einrichtungen jeder Art und Denomination. Nirgends, und das ist für den Dichter das äußerste Verdikt, ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur der kleinste Vogel im Flug. In der Vergangenheit hat Jerusalem einen anderen Anblick geboten, neun Zehntel des Glanzes der Welt waren auf diese prachtvolle Hauptstadt vereint, Wüstenkarawanen brachten Gewürze, Edelsteine, Seide und Gold, Kunst und Gewerbe standen in hoher Blüte – was könnte das neue Jerusalem anderes sein als die Wiederherstellung des alten.
Der Hotelier, ein Franzose, konnte beim Anblick der völlig verstaubten Reisenden nur den Kopf schütteln. Der Fremdenführer war mit einer Mordsnase ausgestattet, ein Detail, über das Adelwarth, in den Feinheiten der politischen Korrektheit nur unzureichend geschult, nicht hinwegsieht und das auf semitische Wurzeln hinweisen könnte. Was aus dem Mund des Führers hervorquillt und den Reisenden als englisch-deutsche Phantasiesprache erscheint, könnte eine Spielart des Jiddischen gewesen sein. Die Osmanen, Herren des Landes, denen der Zustand der Stadt nicht zur Ehre gereicht, lassen sich nicht blicken. Es schein, als sei Kudüs weitgehend menschenleer, und dann heißt es plötzlich, die beiden Reisenden seien aus dem von Pilgerscharen übervölkerten Jerusalem begleitet von einigen arabischen Sherpas in das tief unten gelegene Jordantal entflohen, die niedrigste Gegend der Welt überhaupt.
In Venedig verabschiedet sich Malachio mit dem traditionellen Gruß: Ci vediamo a Gerusalemme. Der Dichter rätselt, was er wohl gemeint haben könnte. Sicher ist es keine Verabredung zu einem Wiedersehen in der heutigen, vom Unrat bestmöglich gereinigten Stadt Jerusalem, das neue Jerusalem steht noch aus, und niemand weiß, in welchem Stadium des Apokalypse wir uns befinden. Il mondo brucia continuamente.
Thomas Bernhard hat praktisch alles beschimpft, was sich beschimpfen läßt, nicht zuletzt die unterschiedlichsten Städte, kleine und große, Städte im Norden und solche im Süden, eine eigene Sammlung seiner Städtebeschimpfungen liegt vor, und dann spricht er unversehens von Warschau als von der dunklen und schönen Stadt. Ein vergleichbares Prädikat wird in Sebalds Werk nicht vergeben, der Leser könnte es am ehesten Konstantinopel zusprechen, so wie es Adelwarth und Solomon auf ihrer Orientreise kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erleben. Von Konstantinopel aus reisen sie weiter in nach Aleppo und von dort nach Beirut. Ihr letztes Reiseziel ist die osmanische Kleinstadt Kudüs, den meisten besser bekannt als Jerusalem. Lediglich ihr Gepäck geben sie in Jaffa auf die erst wenige Jahre zuvor fertiggestellte Bahn, selbst erreichen sie Jerusalem in einem zwölfstündigen Ritt bergauf. Zwölf Stunden bergauf, wen kann es verwundern, wenn es ihnen in der Erinnerung scheint, als blickten sie auf großer Höhe auf die Erde hinab von einem jener Türme, die sich im Himmel verlieren. Was sie aber dort oben auf der Höhe vorfinden, veranlaßt Adelwarth in seinem Tagebuch zu Ausführungen, die in ihrer negativen Sprachgewalt nicht zurückstehen hinter Bernhard, es ist aber nicht die Gestik des Schimpfens, sondern die des Erleidens und der Trauer: Im großen und ganzen ein furchtbarer Eindruck, die neueren Bauten von einer schwer zu beschreibenden Häßlichkeit, in den Straßen große Mengen von Unrat. On marche sur des merdes. Verfall, nichts als Verfall, Marasmus und Leere und sonst einmal ums andere Kirchen, Klöster, religiöse und philanthropische Einrichtungen jeder Art und Denomination. Nirgends, und das ist für den Dichter das äußerste Verdikt, ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur der kleinste Vogel im Flug. In der Vergangenheit hat Jerusalem einen anderen Anblick geboten, neun Zehntel des Glanzes der Welt waren auf diese prachtvolle Hauptstadt vereint, Wüstenkarawanen brachten Gewürze, Edelsteine, Seide und Gold, Kunst und Gewerbe standen in hoher Blüte – was könnte das neue Jerusalem anderes sein als die Wiederherstellung des alten.
Der Hotelier, ein Franzose, konnte beim Anblick der völlig verstaubten Reisenden nur den Kopf schütteln. Der Fremdenführer war mit einer Mordsnase ausgestattet, ein Detail, über das Adelwarth, in den Feinheiten der politischen Korrektheit nur unzureichend geschult, nicht hinwegsieht und das auf semitische Wurzeln hinweisen könnte. Was aus dem Mund des Führers hervorquillt und den Reisenden als englisch-deutsche Phantasiesprache erscheint, könnte eine Spielart des Jiddischen gewesen sein. Die Osmanen, Herren des Landes, denen der Zustand der Stadt nicht zur Ehre gereicht, lassen sich nicht blicken. Es schein, als sei Kudüs weitgehend menschenleer, und dann heißt es plötzlich, die beiden Reisenden seien aus dem von Pilgerscharen übervölkerten Jerusalem begleitet von einigen arabischen Sherpas in das tief unten gelegene Jordantal entflohen, die niedrigste Gegend der Welt überhaupt.
In Venedig verabschiedet sich Malachio mit dem traditionellen Gruß: Ci vediamo a Gerusalemme. Der Dichter rätselt, was er wohl gemeint haben könnte. Sicher ist es keine Verabredung zu einem Wiedersehen in der heutigen, vom Unrat bestmöglich gereinigten Stadt Jerusalem, das neue Jerusalem steht noch aus, und niemand weiß, in welchem Stadium des Apokalypse wir uns befinden. Il mondo brucia continuamente.
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