Zweite neue Zeit
Mit ihnen kommt zum ersten Mal die neue Zeit der Vernunft. Man hat den Eindruck, die beiden Philosophen hätten sich, nachdem alle anderen schon vor ihnen eingetroffen waren, mit raschem Schritt dem Eingangsbogen der hallenartigen Schule genähert und hielten jetzt, da sie ihn gerade durchmessen haben, für einen Augenblick inne, wohl weil das Gespräch ein Maß der Intensität erreicht hatte, die sich mit der Fortbewegung nicht vereinbaren läßt. Es ist gleichwohl kein Dissens, kein heftiges Streitgespräch, eher sind Nuancen abzuwägen, Plato weist mit dem Finger steil nach oben ins Reich der Ideen der reinen Vernunft, Aristoteles deutet mit der Handfläche an, man solle den Ball vielleicht doch ein wenig flacher halten und die Kraft der Erfahrung nicht außer acht lassen. Für ihre zur Linken und zur Rechten aufgereihten Schüler haben die beiden im Augenblick noch keinen Blick, bald aber werden sie ihr Zwiegespräch beenden und, wie vor ihnen bereits Euklid und Pythagoras, einen geeigneten Platz in dem weitläufigen Gebäude suchen, um die jeweilige Schülergruppe um sich zu versammeln. Auch die Themen des heutigen Tages stehen bereits fest, für Platos Gruppe ist es der Timaios-Dialog, auf der Seite des Aristoteles die Nikomachische Ethik. Naturgemäß wird sich keiner der beiden nach dem Vorbild des diskurs- und lehrunwilligen Heraklit einsam in seine dunklen Überlegungen versenken oder gar, wie Diogenes, nur provokant auf der Treppe lungern. Zum ersten Mal hat sich die menschliche Vernunft freigesprochen von den Göttern, denen der Zugang zur Schule offenbar verwehrt ist. Eine Halle des Denkens, die philosophischen Räume stehen weit offen, die Bewegungsfreiheit der Vernunft stößt kaum auf Grenzen. Enger waren naturgemäß die Pfade für die der Mathematik verbundene Philosophenfraktion, enger, aber auch zielsicherer.
Wie anders stellt sich das ebenfalls aus Raffaels Hand stammende Nachbargemälde dar, die christliche Disputa oder auch der Triumph der Religion. Die Disputation findet unter freiem Himmel statt, aber der Himmel ist nicht frei. Die in nur geringer Höhe schwebende Heilige Dreifaltigkeit, umgeben und abgesichert von ihren Fürsten, unterbindet jeden möglichen Blick in höhere Sphären. Mit dem religiös besetzten Himmel macht sich der Dichter auch in unseren Tagen noch zu schaffen. So erstaunt ihn die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln Giottos erhoben wird. Die Klage ist abgehoben von der Beweinung Christi und gilt nun umfassend dem Zustand der Welt. Auf Tiepolos Bild von der Pest in Este sieht er die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren um uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. Worin mag dieser Begriff bestehen – nach Lage der Dinge doch wohl darin, daß alles über unsere Köpfe, unser Meinen und unser Wollen hinweggeht.
Auf seinen Reisen und Wanderungen ist der Dichter die längste Zeit allein und ähnlich dem Heraklit seinen nicht selten dunklen Gedanken hingegeben, die Helligkeit und Zuversicht am Eingangstor zur Schule sind verschwunden, der Himmel meist wieder verhangen, die Wolken nicht zu verscheuchen. Die zweite neue Zeit der Vernunft, in der wir leben, läßt sich weniger gut an, Plato und Aristoteles inspirieren aus weiter Ferne auch heute noch, aber wer läßt sich aus relativer Nähe noch von Descartes inspirieren. Die zahlreichen Zwiegespräche, die der reisende und wandernde Dichter führt, sind weit entfernt von der optimistischen Zukunftserwartung, die am Eingangstor zur Schule herrscht. Auch herrscht kein Gleichgewicht wie zwischen den beiden Griechen, Austerlitz referiert über Architektur und Bauwesen, der Dichter lauscht, Austerlitz referiert zum Wesen der Zeit, der Dichter lauscht, Altamura wurde ohnehin zum Referat gebeten, beim Bootsausflug mit Malachio wird insgesamt wenig geredet. Aber gibt der Dichter die verschiedenen Gespräche naturgetreu wieder? Wenn Aristoteles den Auftrag erhalten hätte, das Gespräch am Eingang zur Schule zu resümieren, hätte er dann nicht weitgehend Plato das Wort überlassen, und umgekehrt Plato, der ohnehin gewohnt war, Sokrates vorzuschicken, wäre er nicht hinter Aristoteles zurückgetreten?
Mit ihnen kommt zum ersten Mal die neue Zeit der Vernunft. Man hat den Eindruck, die beiden Philosophen hätten sich, nachdem alle anderen schon vor ihnen eingetroffen waren, mit raschem Schritt dem Eingangsbogen der hallenartigen Schule genähert und hielten jetzt, da sie ihn gerade durchmessen haben, für einen Augenblick inne, wohl weil das Gespräch ein Maß der Intensität erreicht hatte, die sich mit der Fortbewegung nicht vereinbaren läßt. Es ist gleichwohl kein Dissens, kein heftiges Streitgespräch, eher sind Nuancen abzuwägen, Plato weist mit dem Finger steil nach oben ins Reich der Ideen der reinen Vernunft, Aristoteles deutet mit der Handfläche an, man solle den Ball vielleicht doch ein wenig flacher halten und die Kraft der Erfahrung nicht außer acht lassen. Für ihre zur Linken und zur Rechten aufgereihten Schüler haben die beiden im Augenblick noch keinen Blick, bald aber werden sie ihr Zwiegespräch beenden und, wie vor ihnen bereits Euklid und Pythagoras, einen geeigneten Platz in dem weitläufigen Gebäude suchen, um die jeweilige Schülergruppe um sich zu versammeln. Auch die Themen des heutigen Tages stehen bereits fest, für Platos Gruppe ist es der Timaios-Dialog, auf der Seite des Aristoteles die Nikomachische Ethik. Naturgemäß wird sich keiner der beiden nach dem Vorbild des diskurs- und lehrunwilligen Heraklit einsam in seine dunklen Überlegungen versenken oder gar, wie Diogenes, nur provokant auf der Treppe lungern. Zum ersten Mal hat sich die menschliche Vernunft freigesprochen von den Göttern, denen der Zugang zur Schule offenbar verwehrt ist. Eine Halle des Denkens, die philosophischen Räume stehen weit offen, die Bewegungsfreiheit der Vernunft stößt kaum auf Grenzen. Enger waren naturgemäß die Pfade für die der Mathematik verbundene Philosophenfraktion, enger, aber auch zielsicherer.
Wie anders stellt sich das ebenfalls aus Raffaels Hand stammende Nachbargemälde dar, die christliche Disputa oder auch der Triumph der Religion. Die Disputation findet unter freiem Himmel statt, aber der Himmel ist nicht frei. Die in nur geringer Höhe schwebende Heilige Dreifaltigkeit, umgeben und abgesichert von ihren Fürsten, unterbindet jeden möglichen Blick in höhere Sphären. Mit dem religiös besetzten Himmel macht sich der Dichter auch in unseren Tagen noch zu schaffen. So erstaunt ihn die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln Giottos erhoben wird. Die Klage ist abgehoben von der Beweinung Christi und gilt nun umfassend dem Zustand der Welt. Auf Tiepolos Bild von der Pest in Este sieht er die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren um uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. Worin mag dieser Begriff bestehen – nach Lage der Dinge doch wohl darin, daß alles über unsere Köpfe, unser Meinen und unser Wollen hinweggeht.
Auf seinen Reisen und Wanderungen ist der Dichter die längste Zeit allein und ähnlich dem Heraklit seinen nicht selten dunklen Gedanken hingegeben, die Helligkeit und Zuversicht am Eingangstor zur Schule sind verschwunden, der Himmel meist wieder verhangen, die Wolken nicht zu verscheuchen. Die zweite neue Zeit der Vernunft, in der wir leben, läßt sich weniger gut an, Plato und Aristoteles inspirieren aus weiter Ferne auch heute noch, aber wer läßt sich aus relativer Nähe noch von Descartes inspirieren. Die zahlreichen Zwiegespräche, die der reisende und wandernde Dichter führt, sind weit entfernt von der optimistischen Zukunftserwartung, die am Eingangstor zur Schule herrscht. Auch herrscht kein Gleichgewicht wie zwischen den beiden Griechen, Austerlitz referiert über Architektur und Bauwesen, der Dichter lauscht, Austerlitz referiert zum Wesen der Zeit, der Dichter lauscht, Altamura wurde ohnehin zum Referat gebeten, beim Bootsausflug mit Malachio wird insgesamt wenig geredet. Aber gibt der Dichter die verschiedenen Gespräche naturgetreu wieder? Wenn Aristoteles den Auftrag erhalten hätte, das Gespräch am Eingang zur Schule zu resümieren, hätte er dann nicht weitgehend Plato das Wort überlassen, und umgekehrt Plato, der ohnehin gewohnt war, Sokrates vorzuschicken, wäre er nicht hinter Aristoteles zurückgetreten?
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