Mittwoch, 15. Juli 2020

Ungeheuer

Bildersprache

Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben bereits ausgehaucht. Von dem Drachenleichnam geht wenig Beunruhigendes aus, auch lebendig wurde der Drache offenbar überschätzt. Die ursprüngliche Begleitung von sieben kampfbereiten Berittenen, wie in einem anderen Bild Pisanellos festgehalten, war bei weitem überzogen, von den Reitern ist denn auch nichts mehr zu sehen, sie wurden entlassen, San Giorgio hat die Sache mühelos allein geregelt.

Der Drachen, das Landungeheuer, ist geschrumpft und erledigt, anders steht es mit dem Seeungeheuer, dem Leviathan, der auf einer britische Insel an Land geht und dort unter dem Blick des Philosophen Hobbes seine Seeungeheuerlichkeit ablegt. Er schrumpft nicht, verändert sich aber radikal vom Sinnbild des menschlichen Naturzustandes, als das er gesehen wurde, ein Zustand gekennzeichnet vom Kampf aller gegen alle, zum Sinnbild staatlicher Ordnung wie festgehalten auf dem Frontispiz der staatsphilosophischen Schrift des Thomas Hobbes. Der Leviathan ist nicht wiederzuerkennen. Vielleicht war es ein typisch britischer Einfall, der Einfall eines Inselvolks, einem geläuterten Seeungeheuer die Zivilisierung des Menschheit anzuvertrauen. Sebald entwickelt sein Bild von San Giorgio und dem Drachen nahezu ausschließlich an Werken der bildenden Kunst und auch für Hobbes war die graphische Interpretation seiner Ausführungen von hoher Bedeutung, er selbst soll das Titelbild des Leviathan entworfen haben. Auf dem Bild fällt zunächst nur der alles überragende Souverän auf, dann aber die seltsame Schuppenhaut, die Brust und Arme zu bedecken scheint, und dann, beim sorgsamen Hinschauen, gibt sich jede Schuppe als ein Mensch, und zwar als ein Mann, als ein männlicher Untertan zu erkennen. Vorwegnehmend läßt sich sagen, daß, wie immer im einzelnen die Interpretation ausfallen mag, die Feinheiten der Geschlechtergleichheit, an denen wir heute feilen, noch nicht auf dem Plan standen, nicht einmal das Frauenwahlrecht war auf den Weg gebracht. Giorgio hatte den Drachen noch nach höfischer Sitte im Auftrag einer Prinzessin erledigt, das waren andere Verhältnisse, damit war es längst vorbei. Hobbes‘ Annahme eines menschlichen Naturzustands als Kampf aller gegen alle ist naturgemäß nicht haltbar und wurde, bevor die wissenschaftliche Ethnologie für die nötige Klärung sorgte, zunächst von Rousseau in das Idealbild des edlen Wilden verkehrt. Auf dieser Linie lag auch Chateaubriand, wenn er von Indianermädchen schreibt, deren dunkle Haut einen Anhauch zeigte von moralischer Blässe und in der Seele schon zum Christentum hingeneigt sind. Noch Winnetous Schwester Nscho-tschi bewegt sich noch in der gleichen Vorstellungswelt.
Der Ritter in seiner glorreichen Erscheinung, von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht, sieht nicht die Jungfrau mit dem Erlöserkind, die das Bild ist in der oberen Hälfte fast ganz ausgefüllt, der strenge Blick des heiligen Antonius beeindruckt ihn nicht, seine Augen sind nach innen gekehrt. Was mit dem Drachen aus der Welt geräumt wurde und welche Möglichkeiten sich nun ergeben, ist nicht klar. Giorgio sieht etwas Neues, den Beginn eines neuen Zeitalters, worin es besteht und wohin es führt, kann er nicht wissen. Die Gottesunterworfenheit ist beendet, ein neues Herrschaftsformat nicht in Sicht, Herrschaftslosigkeit nicht denkbar. Philip Manow liest dem Titelblatt des Leviathan Konkreteres ab. Der durchaus freundlich schauende und keinerlei Ungeheuerlichkeit ausstrahlende Souverän wird an Bedeutung verlieren, die uniformen Schuppengestalten werden zu unverwechselbaren Menschen, darunter dann auch Frauen. Sie bewegen sich aufsteigend und werden irgendwann das Gesicht des Souveräns verhüllen, seinen Platz einnehmen, Demokratie wird erahnbar. Der Souverän hat keine Einwände, es ist sein eigenes Arrangement.

Ob man ausgeht von San Giorgios unbestimmter Erwartung oder von Hobbes‘ detaillierter Herleitung, richtig ist in jedem Fall, daß der Staat, die Gesellschaft der Menschen auch nach der Ausschaltung der Ungeheuer etwas Ungeheuerliches an sich hat.

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