Freitag, 11. September 2020

Theatermütter

Fenstersturz

In Un pedigree erzählt Modiano die Geschichte seiner Kindheit und Jugend. Die Erzählung wurde 2005 veröffentlicht, seine Mutter, Louisa Colpeyn, Comédienne, ist 2015 gestorben, sie hatte also alle Zeit, das Buch zu lesen. In dem Buch findet sich kein einziges gutes Wort über sie. Der Hund, ein Chow-Chow, den der Verlobte, nicht Modianos späterer Vater, Louisa vor der Hochzeit geschenkt hatte, war ihr nur lästig, sie hatte ihn schon bald verschiedenen Personen anvertraut, später, so heißt es, habe sie es mit ihrem Sohn Patrick ebenso gemacht. Der Hund habe schließlich durch Sprung aus dem Fenster Selbstmord begangen, man lese: Patrick ist einem ähnlichen Schicksal nur knapp entkommen. Louisa Colpeyn ist im Alter von 97 Jahren gestorben, die von ihrem Sohn verfaßte Todesanzeige ist von äußerster Kargheit. Wie anders liest sich die Geschichte von Jacques Austerlitz und seiner Mutter, der Schauspielerin  Agata Austerlitzova. Wenn die Mutter abends ins Theater mußte, war Jacques in der Obhut der ihm kaum weniger lieben Vera Rysanova. Gleichwohl fand er keinen Schlaf, bis Agata nach Hause kam und sich zu ihm niedersetzte, umhüllt von einem seltsamen, aus verwehtem Parfum und Staub gemischten Theatergeruch. Der Schal gleitet ihr von der rechten Schulter, als sie dem Kind mit der Hand über die Stirn streicht. Die Unterschiede zwischen der fiktiven Agata und der realen Louisa Colpeyn sind, wer könnte es übersehen, erheblich. Zu erwähnen bleibt, daß auch die Schilderung einer realen Person keineswegs ohne Fiktion auskommt.

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