Zwei Fachleute am Werk
Nie sucht der
Dichter ein Kunstmuseum oder einen vergleichbaren Ort auf, um die Gesamtheit
der Exponate ins Auge zu fassen, nie auch wird er von anderen Freunden der
Kunst gestört oder behelligt, er ist allein mit je einem Bild. Dem
widerspricht nicht, daß die Italienreisen nicht zuletzt Bilderreisen sind. Das
erste Bild, das er in Italien sieht, sieht er nicht in einem Museum oder in
einer Kirche, sondern in der eigenen Vorstellung, als er mit dem Zug durch das Friaul
fährt: Tiepolos Santa Tecla libera Este della peste. Zur Linken,
knieend, die heilige Thekla, in ihrer Fürbitte für die Bewohner der Stadt, das
Gesicht aufwärts gekehrt, wo die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren
und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über
unseren Köpfen vollzieht. In Verona sucht er die Chiesa Sant’ Anastasia auf, um
ein Fresko Pisanellos zu betrachten, in Padua die Kapelle des Enrico Scrovegni
für die Fresken Giottos und, schon auf der Rückfahrt, in London die
Nationalgalerie für Pisanellos Bild San Giorgio con cappello di paglia. Die
Bilder werden keine Bildbeschreibung unterzogen, sind aber Ausgangspunkt für Bilderzählungen.
Es ist unterstellt, daß es sich um künstlerisch hochwertige Bilder handelt, jenseits einer
ausdrücklichen Bewertung, die Bilder stehen untereinander nicht in Konkurrenz. Reger
sitzt jeden zweiten Tag für mehrere Stunden im Bordone-Saal des
Kunsthistorischen Museums auf der samtbezogenen Sitzbank gegenüber Tintorettos Weißbärtigen
Mann. Es gibt weder eine Bildbeschreibung noch eine Bilderzählung und auch
keine klare Begründung für die Vorzugsstellung des Tintorettobildes. Reger
räumt ein, daß auch der Weißbärtige Mann nicht makellos ist, allerdings
der Makellosigkeit näher als jedes andere ihm bekannte Gemälde. Viele Bilder
werden nicht beurteilt, sondern verurteilt, nur vereinzelt gibt es Freisprüche. In einer
Art Wettkampf treten die Maler oft zu zweit oder zu mehreren an, El Greco sei
kein wirklich großer Maler, heißt es, kein allererster Maler, wie Goya, Analysen,
die das belegen könnten, unterbleiben. Es scheint, als könne Goya den zweiten
Platz nach Tintoretto besetzen. Dürer tritt allein auf und findet kein einziges
gutes Wort, vielmehr Schmähungen. Nicht nur Maler werden be- und verurteilt,
auch Musiker, Literaten und Philosophen. Der übergreifende negative Ehrenplatz
ist Heidegger nicht zu nehmen. Reger äußert sich so abfällig, daß Heideggers Erben
möglicherweise Rechtsmittel einlegen könnten. Der Dichter äußert sich bei aller
Abneigung gegen Heidegger um einiges kultivierter.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen