Dienstag, 3. Mai 2022

Alte Meister

Zwei Fachleute am Werk

Nie sucht der Dichter ein Kunstmuseum oder einen vergleichbaren Ort auf, um die Gesamtheit der Exponate ins Auge zu fassen, nie auch wird er von anderen Freunden der Kunst gestört oder behelligt, er ist allein mit je einem Bild. Dem widerspricht nicht, daß die Italienreisen nicht zuletzt Bilderreisen sind. Das erste Bild, das er in Italien sieht, sieht er nicht in einem Museum oder in einer Kirche, sondern in der eigenen Vorstellung, als er mit dem Zug durch das Friaul fährt: Tiepolos Santa Tecla libera Este della peste. Zur Linken, knieend, die heilige Thekla, in ihrer Fürbitte für die Bewohner der Stadt, das Gesicht aufwärts gekehrt, wo die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. In Verona sucht er die Chiesa Sant’ Anastasia auf, um ein Fresko Pisanellos zu betrachten, in Padua die Kapelle des Enrico Scrovegni für die Fresken Giottos und, schon auf der Rückfahrt, in London die Nationalgalerie für Pisanellos Bild San Giorgio con cappello di paglia. Die Bilder werden keine Bildbeschreibung unterzogen, sind aber Ausgangspunkt für Bilderzählungen. Es ist unterstellt, daß es sich um künstlerisch hochwertige Bilder handelt, jenseits einer ausdrücklichen Bewertung, die Bilder stehen untereinander nicht in Konkurrenz. Reger sitzt jeden zweiten Tag für mehrere Stunden im Bordone-Saal des Kunsthistorischen Museums auf der samtbezogenen Sitzbank gegenüber Tintorettos Weißbärtigen Mann. Es gibt weder eine Bildbeschreibung noch eine Bilderzählung und auch keine klare Begründung für die Vorzugsstellung des Tintorettobildes. Reger räumt ein, daß auch der Weißbärtige Mann nicht makellos ist, allerdings der Makellosigkeit näher als jedes andere ihm bekannte Gemälde. Viele Bilder werden nicht beurteilt, sondern verurteilt, nur vereinzelt gibt es Freisprüche. In einer Art Wettkampf treten die Maler oft zu zweit oder zu mehreren an, El Greco sei kein wirklich großer Maler, heißt es, kein allererster Maler, wie Goya, Analysen, die das belegen könnten, unterbleiben. Es scheint, als könne Goya den zweiten Platz nach Tintoretto besetzen. Dürer tritt allein auf und findet kein einziges gutes Wort, vielmehr Schmähungen. Nicht nur Maler werden be- und verurteilt, auch Musiker, Literaten und Philosophen. Der übergreifende negative Ehrenplatz ist Heidegger nicht zu nehmen. Reger äußert sich so abfällig, daß Heideggers Erben möglicherweise Rechtsmittel einlegen könnten. Der Dichter äußert sich bei aller Abneigung gegen Heidegger um einiges kultivierter.

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