Überforderung
In Wien hat er niemanden, mit dem er reden kann. Bekanntlich hat kein Mensch mit enormen Schuhverbrauch so viele Wiener Straßen durchlaufen wie Wertheimer, aber auch er, der Namenlose, macht sich jeden Morgen auf und legt auf sich gestellt in der inneren Stadt end- und ziellose Wege zurück. Hätte er einen Gefährten, wäre der Verlauf wohl ein anderer. Ein anderer Namenloser macht seine Wege an jedem Montag in der Begleitung von Karrer und an jedem Mittwoch in der Begleitung von Oehler, inzwischen, nachdem Karrer in die Irrenheilanstand eingewiesen wurde, begleitet er Oehler auch am Montag. Es ist ein philosophisches Gehen, anders als beim einsamen Gehen stellt sich keine optisch wahrnehmbare Verwahrlosung ein, abgetretenes Schuhwerk etwa. Nach einem kurzen Meinungsaustausch etwa über den Vorrang flacher oder stiefelähnlicher Schuhe übernimmt allein Oehler das Zepter, er referiert auch Karrers Einlassungen aus der Zeit vor seinem Irresein, der namenlose Begleiter bleibt so gut wie stumm. Auch der Dichter hörte Austerlitz und anderen Bekanntschaften zu und schwieg selbst weitgehend, auf das Denken kommt es an, weniger auf das Sprechen. Soviel ist unbestreitbar: Kein wahres Gehen ohne Denken, kein wahres Denken ohne Gehen, das hatten schon Platon und Aristoteles durchschaut. Dabei fügt sich das Gehen keineswegs harmonisch in das Denken oder umgekehrt, das Denken in das Gehen, Gehen und Denken beeinträchtigen sich gegenseitig, konzentriertes Gehen stört das Denken, intensives Denken beeinträchtig das Gehen, damit muß man sich abfinden und nicht etwa auf das Denken oder aber das Gehen verzichten. Zudem fragt man sich, ob die fünf gehfreien Wochentage, Sonntag, Dienstag, Donnerstag, Freitag und Samstag, zugleich auch denkfreie Tage sind, wie sollte man sich diese Denkunterbrechung vorstellen? In jedem Fall ist das mit Gehen unterlegte Denken dem reinen, einsamen und gedankenlosen Gehen weit voraus, siehe den orientierungs- und gedankenlos durch Wien wandernden Dichter. Bei Karrer war es wohl eher eine Überstrapazierung des Denkens als des Gehens, Ludwig Wittgenstein und Ferdinand Ebner waren die Stichwortgeber, denen er letztlich nicht gewachsen war. Generell ist der Mensch ist weder seinem Denken noch seiner Gedankenlosigkeit gewachsen. Oehler sieht die Zukunft der Menschheit allein im vollständigen und restlosen Geburtenabbruch. Auch der Dichter imaginiert immer wieder das Verschwinden der Menschheit, und in seiner Prosa ist die wahrnehmbare Geburtenzahl niedrig, derart harsche Maßnahmen wie Oehler sie plant bringt er aber nicht ins Spiel. Er selbst ist allein und bloß mit den Dohlen in den Anlagen vorm Rathaus und mit einer weißköpfigen Amsel, die mir den Dohlen um seine Weintauben kam, hat er einiges geredet. Oehler und der Namenlose haben vergessen, ihr Vogelfutter an die Vögel unter der Friedensbrücke zu verfüttern und verfüttern es jetzt eilig im Park in der Klosterneuerburgerstraße, in kurzer Zeit ist das Vogelfutter hier aufgefressen, weitaus schneller als unter der Friedensbrücke, je nach der Umgebung reagieren die Vögel unterschiedlich. Auf ein Gespräch mit den Vögeln, und seien es auch nur wenige Sätze, lassen sich Oehler und der Namenlose nicht ein.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen