Freitag, 14. April 2023

Vier Wendepunkte

Klimapionier

Mehr als alles andere zeichneten Michael seine Bedürfnislosigkeit aus, die an das Exzentrische grenzte. Zu einer Zeit, wo die meisten Leute zu ihrer Selbsterhaltung in einem fort einkaufen müssen, ist er praktisch überhaupt nie zum Einkaufen gegangen. Jahraus, jahrein trug er abwechslungsweise eine dunkelblaue und eine rostfarbene Jacke, und wenn die Ärmel abgestoßen oder die Ellbogen durchwetzt waren, hat er selbst zu Nadel und Faden gegriffen und einen Lederbesatz aufgenäht. Die Sympathie des Autors für den asketischen Kollegen liegt auf der Hand. Wir befinden uns aber im Bereich von Produktion und Konsum, der vor allem anderen das Wohlergehen der Menschheit aufrecht erhält und zugleich ihren Untergang fördert. Wer kauft, Kleidung, Autos oder was auch immer, setzt Geld in Umlauf, von dem andere leben. Der sogenannte Wohlstand nimmt zu, inzwischen aber nicht mehr die Wohlfahrt, der Ressourcenverschleiß ist erschreckend. Der Kapitalismus, wenn man diese Vokabel bevorzugt, ist nicht die einzige Gefahr für die Zukunft des Planeten, die der Autor anspricht. Brucia, brucia continuamente. Wer glaubt, gemeint sei allein oder auch nur vordringlich das Krematorium auf der der Giudecca westlich vorgelagerten namenlosen Insel, der irrt sich, es geht um die umfassende Verbrennung, ohne die die Menschheit mittlerweile keinen Schritt mehr machen kann. Prometheus, der Feuerbringer, gilt als der Schuldige, offenbar war er sich nicht bewußt, was auf lange Sicht mit dem Geschenk des Feuers angerichtet würde. Zunächst schien sich alles zum Guten zu richten, die Ausbeutung der Menschen durch Menschen wurde mehr und mehr rückläufig, Sklavenarbeit wurde den Maschinen übertragen. Man feiert die sogenannte Entfesselung der Produktivkräfte, so als sei die Erde allein zum Wohl und Vergnügen der Menschen geschaffen worden. Das allerdings wurde bald schon in Frage gestellt, man mag für eine gewisse Zeit die Natur vergessen und gnadenlos ausbeuten, die Natur aber vergißt nichts und rächt sich, brucia continuamente. Aus dem Getöse der Maschinen werde, so der Dichter, das Leben entsteht, das nach uns kommt und das uns langsam zugrunde richten wird. Er zieht die Konsequenz, indem er die nachfolgende Generation aus seinem Prosawerk weitgehend ausschließt, naturgemäß aber nicht aus der Welt. Inzwischen aber hat die Lage sich profund verändert. Die Menschenzahl auf dem Planeten hat sich in den vergangenen hundert Jahren auf erschreckende Weise vervierfacht. Man spricht nicht gern davon, da jeder neue Erdenbürger, Mädchen oder Junge, für sich genommen unschuldig und freudig zu begrüßen ist. Luise Erdrich, die Sebalds Prosa bewundert, bewegt sich denn auch in der ihm entgegengesetzten Richtung und läßt in ihren Romanen, ganz abgesehen von ihren Kinderbüchern, endlose Mengen von Kindern, Mädchen wie Jungen, auftreten. Gegenläufige Vorstellungen, wie hier zwischen Sebald und Erdrich, mindern nicht die Leistungen eines anderen Autors. In Staaten wie Nord- oder Süddakota, Erdrichs Heimat, kann im übrigen von Überbevölkerung nicht die Rede sein. Nur ungern eingegangen wird auch auf die zerstörende Kraft des Tourismus, der Dichter spricht permanent vom Ferienvolk, dem unübersehbar seine Verachtung gilt. Zwanghaft, so sieht er es, macht das Volk sich bei jeder Unterbrechung der Berufszeit, sei es von wenigen Tagen, sei es von mehreren Wochen, auf den Weg, mehr und mehr Gegenden werden für die Bewohner unbewohnbar. Eine einzige buntfarbene Menschenmasse schiebt sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Orts. Lauter Lemurengesichter sind es, verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske. Auch in der Bahnhofshalle lagert hingestreckt wie von schweren Krankheit ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden, gar draußen auf dem Vorplatz liegen ungezählte Männer und Frauen, in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum. Der Tourismus ist längst ein Teil der umfassenden Produktivität, wenn er ausbleibt droht den Ferienländern der Konkurs, wenn er nicht ausbleibt droht die Zerstörung.

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