Dienstag, 9. Mai 2023

Venezia

Fast menschenleer

 

Die Italienreisen in den Jahren 1980 und 1987 haben jeweils in Venedig ihren Ausgangspunkt. Die Mengen von Touristen, die 1987 im und vor dem Bahnhof ihre Zwischenlager eingerichtet haben, stimmen ihn nicht positiv, und als er die Ratte beobachtet, die von einem Schiff flüchtet und ins Wasser springt, entscheidet er sich, es ihr auf seine Art gleich zu tun und mit dem ersten Zug nach Padua weiterzufahren. Mit einem aus den Nähten geratenen Ferienvolk war  man 1980 offenbar noch nicht konfrontiert, man könnte meinen, der Dichter strebt einsam durch die nahezu menschenleere Lagunenstadt, der Figaro, der ihm zu einer scharfen Rasur verhilft, muß zufrieden sein mit dem einsamen Kunden, zu Gesicht bekommen die Leser den Haarkünstler nicht. Stadt der Kanäle, aufrecht und reglos stehen die Steuermänner im Heck, die Hand am Ruder, schauen sie unverwandt voraus, Wikinger, Riesen der Vorzeit, man kann sich ihnen nicht nähern. Kurios ist die Lage auf dem Festland im Inneren der Stadt. Kaum tritt jemand auf, hat er die Bühne durch einen anderen Ausgang schon wieder verlassen, wer es war, ist nicht zu erkennen. Geht in einer sonst leeren Gasse jemand hinter einem her, fühlt man sich verfolgt und spürt die Angst im Nacken, wer mag das sein, umgekehrt wird man leicht selbst zum Verfolgten und möchte von allem Abstand nehmen. Das Kernstück der inneren Stadt, den Dogenpalast, besucht der Dichter in Begleitung Grillparzers, der naturgemäß längst tot ist. Grillparzer bewunderte den Palast zurückhaltend. Trotz aller Zierlichkeit der Kunst in seinen Arkaden und Zinnen habe das Gebäude einen unförmigen Körper und erinnere an ein Krokodil, näher erläutern vermag Grillparzer diesen Eindruck nicht. Casanova, ebenfalls längst tot, war notgedrungen ein Kenner des Palastes und insbesondere der Bleikammern, in denen er zwei Jahre lang verwahrt wurde, bis ihm endlich die Flucht gelang. Sehnsucht nach dem Dogenpalast stellte sich bei ihm später naturgemäß nicht ein. Zurück zu den Lebenden, nur ein einziger, Malachio, wird uns namentlich bekannt. Von Haus aus ist er Astrophysiker, beschäftigt sich aber auch mit anderen Menschheitsfragen, etwa der von Tod und Auferstehung, Ergebnisse erzielt er auf diesem Gebiet allerdings nicht, wie er gern zugibt. Zudem ist er Bootsfahrer und vermag den Dichter auf angenehme Weise durch die Kanäle leiten. Er verabschiedet sich mit dem Ruf: Ci vediamo a Gerusalemme, in der Übersetzung: Wir werden uns wohl nicht wiedersehen. Sein Zimmer hat der Dichter dann nicht ein einziges Mal mehr verlassen, ihm schien, als könne man sich tatsächlich durch Nachdenken und Sinnieren allein ums Leben bringen. Um diesem Schicksal dann doch zu entkommen, flieht er schließlich zum Bahnhof, wer aber glaubt, im Bahnhof unter Menschen zu geraten, der täuscht sich womöglich. Man muß zu den weit oben thronenden, offenbar weiblichen Wesen, die in völliger Unberührtheit über den Häuptern der Bittsellern schweben, seinen Wunsch hinaufschreien, die männlichen Kreaturen, ein Gesicht haben sie so wenig wie die Frauen, stehen in Todesverachtung hinter einem kreisförmigen Buffet dem andrängenden Menschenvolk gegenüber, wer sein Wunschgetränk, sei es ein Cappuccino, sei es ein Fernet, unbeschadet erhält, kann sich zu den Ausgewählten zählen. - Malachio ist das einzige zweifellos menschliche Wesen, an das der Dichter sich auf seiner Weiterfahrt nach Verona und auch später erinnern kann.

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