Samstag, 14. Februar 2009

Türen

Juristen und andere

Primer fou el reconeixement que als tribunals no s’hi va a buscar justícia sinó jus

Ist es Zufall, daß beide, der überragende Prosaschriftsteller deutscher Sprache des letzten Jahrhunderts und der überragende Theoretiker, von Haus aus Juristen waren. Haben sie etwas Gemeinsames, das sich auf diese Gemeinsamkeit zurückführen läßt?

Gipfelpunkt des Kafkaesken ist die kleine Erzählung Vor dem Gesetz. Ein Mann vom Lande will durch die erste von zahllosen Türen des Gesetzes, und sie wird ihm nicht aufgetan. Er richtet sich für sein Leben neben dieser Tür ein, wartet bis zum Tod, daß sie sich öffnen möge, und sieht sterbend, wie sie endgültig und für immer geschlossen wird; die Tür, die sich nie öffnete, war ausschließlich für ihn bestimmt. Und umgekehrt: Der alte Kaiser auf seinem Sterbebett flüstert dem Boten eine Nachricht ins Ohr, die bestimmt ist für einen unbedeutenden Untertanen vom Lande an der äußersten Grenze des Reiches, der Bote rennt los, schneller fast, als die Beine tragen können, aber nie wird er auch nur das äußere Tor der Palastanlage und damit den Zugang zur Weite des Landes erreichen. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.

Bei Luhmann ist Grundbedingung für alles, was sein und werden will, daß sich die Tore des Systems - welcher Art es auch immer sein mag, insbesondere aber dann, wenn es als soziales System auf Kommunikation, man kann auch sagen: auf Botschaften beruht - daß sich die Tore schließen zur Außenwelt, und direkter Kontakt zwischen System und Umwelt damit auf immer unmöglich ist. Die Außenwelt kann sich nur als Störung der Systemabläufe geltend machen, aber das muß uns letztlich nicht bekümmern, denn alles, woran uns liegt, unsere Wahrnehmungen, unsere Gedanken und unsere Gefühle sind interne Verarbeitungen der Störungen. Gleichwohl ahnen wir, in welchem Ausmaß wir mit Blind- und Taubheit geschlagen sind.

Gehen diese ganz unterschiedlich eingekleideten und doch sehr ähnlichen Erfahrungen bei Dichter und Theoretiker zurück auf die beiden eigene spezifische Erfahrung des Juristen, daß dem Recht die Gerechtigkeit, nach der wir uns sehnen und die immer einmal wieder als Trugbild am Horizont vorbeihuscht, auf ewig unzugänglich und verschlossen ist? Ist an dieser Stelle, am Eingang zum Gesetz, der Eindruck des verschlossenen Himmels stärker als anderswo?

Sebald war kein Jurist und von geschlossenen Türen nicht in dieser Weise heimgesucht. Sicher bilden das Thema der Bewegung und des Wanderns und das Thema des Hindernisses und des Steckenbleibens ein enges Zwangspaar, Beckett läßt es in aller Intensität erleben, und dieses Paar entspricht nicht ohne weiteres dem von Leben und Tod. Die Türen, die Selysses, der Wanderer, zu überwinden hat, sind die Eingangstüren von Hotels, Gasthäusern und Pensionen, von Museen und Untergrundbahnhöfen, die Empfangsdamen sind überwiegend widerstrebend und langsam, sie dehnen die Zeit aber sie sind nicht unüberwindlich, sein Leben verbringt Selysses nicht vor den Türen. In einem seiner früheren literaturkundlichen Aufsätze lehnt Sebald sich einmal an Luhmanns Liebe als Passion an, aber das war ihm wohl doch fremd, eine Dauerreferenz ist daraus nicht geworden. Mit Kafka ist das anders. Sebald gestaltet den Brüsseler Justizpalast als kafkaeskes Zentrum des Gesetzes, aber Selysses hat keine Mühe, ihn zu betreten. Die Türen stehen offen oder fehlen ganz, freilich ist aber auch nichts zu finden, der Palast ist leer und nur mit Gerümpel angefüllt: In diesem mehr als siebenhunderttausend Kubikmeter umfassenden Gebäude gäbe es Korridore und Treppen, die nirgendwo hinführten, und türlose Räume und Hallen, die von niemandem je zu betreten seien und dessen ummauerte Leere das innerste Geheimnis sei aller sanktionierten Gewalt. Immer weiter sei er durch die Gänge geschritten, einmal links- und dann wieder rechtsherum, und endlos geradeaus, unter vielen hohen Türstöcken hindurch, und ein paar Mal sei er in dunkle Sackgassen geraten, an deren Ende Rolladenschränke, Stehpulte, Schreibtische, Bürosessel und sonstige Einrichtungsgegenstände übereinandergetürmt gewesen seien (AUS 47f). – Kafkaesk gestaltet, und zugleich in einem ähnlichen Gegensatz zu Kafkas Gesetzespalast, wie Onettis Werft zu Kafkas Schloß. Der Brüsseler Justizpalast ist letztlich eine urbane Ruderalfläche, die der Wanderer Selysses durchmißt.

Und so ist es kein Wunder, wenn Sebald in der denkbar tiefsten Weise nicht einem kafkaschen Türen-, sondern einem kafkaschen Wandermotiv nachgeht, das dann aber doch auch ein Türenmotiv ist, gemeint ist das Motiv des Jägers Gracchus. Von ihm, den Jäger, wird erzählt, daß er beim Verfolgen einer Gemse – und ist das nicht eine der eigenartigsten Falschmeldungen aller Erzählungen, die je erzählt worden sind? – aus einer Felswand zu Tode gestürzt ist und daß der Kahn, der ihn ans andere Ufer hätte bringen sollen, durch eine falsche Drehung des Steuers, einen Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers die Fahrt verfehlt hat, weshalb er, Gracchus, seither ruhelos auf den irdischen Wassern kreuze und einmal hier und einmal dort versuche, an Land zu gelangen (RS 180).

Da es Kafka gewesen ist, der diese, wie es überraschend heißt, auf einer Falschmeldung beruhende Geschichte ersonnen hat, kommt es dem Erzähler so vor, als bestünde der Sinn der unablässigen Fahrten des Jägers Gracchus in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe, wie sie Kafka nach eigener Aussage immer genau dort ergreife, wo scheinbar und gesetzmäßig nichts zu genießen ist. Zur besseren Erläuterung dieser, nach Einschätzung des Erzählers, etwas undurchsichtigen Bemerkung, erzählt Kafka dann die noch weitaus undurchsichtigere Geschichte vom wohl schon vierzigjährigen Sohn des Besitzers einer Prager jüdischen Buchhandlung. Zufällig, so Kafka, habe er vorgestern abend diesen in nichts anziehenden, wo nicht widerwärtigen Menschen beim Verlassen seines Hauses erblickt. Sein Rücken ist auffallend breit, er geht so eigentümlich stramm, daß man nicht weiß, ob er stramm oder verwachsen ist. Begreifst Du nun, schreibt Kafka, kannst Du es begreifen, warum ich diesem Mann geradezu lüstern folgte und mit unendlichem Genuß ihn in das Tor des Deutschen Hauses verschwinden sah (RS 180 ff). – Wir sehen, wie dieser Mensch, anders als der Mann vom Lande, ein Tor durchschreitet, aber sonst verstehen wir nicht viel, denn Kafka ringt offensichtlich auf dem Schriftweg mit dem uns allen unverständlichen Mysterium der Liebe. Die Liebe habe für Kafka, vor allem anderen, den Schrecken der Erde ausgemacht, und wie muß man es anstellen, daß man nicht zuletzt, unfähig aus dem Leben zu gehen, nicht auch noch dem Podestà, der einen schließlich doch erlösen soll (es muß wohl die Potestas Maxima sein), in einem Augenblick der Selbstvergessenheit lächelnd die Hand aufs Knie legt, so wie der Jäger Gracchus es tut (RS 182 f).

Hier scheint alles auf den Kopf gestellt und gründlich verdreht. Die Liebe, die, so haben wir gelernt, leisten soll, was das Recht nicht kann, nämlich den Hunger nach Gerechtigkeit stillen, erscheint als der größte Schrecken auf Erden, sie, die den Tod überwinden soll, muß schweigen und stillhalten, damit der Tod kommen darf, die Tür zum Totenreich sich öffnet. Einsichtig immerhin, daß unserer aller Sehnsucht nach Liebe die Welt dermaßen aufrührt. Sebald hat den Jäger Gracchus als Jäger Hans Schlag in Wertach, wenn man so sagen kann bei jemandem, der nicht sterben kann, wieder auferstehen lassen, ohne Auskunft zu geben über die Wasserstraßen, die dort hinführen und ohne erkennbare Anstrengungen zu unternehmen, zusätzliches Licht in das glitzernde Dunkel zu bringen.



Den drei Autoren, Kafka, Luhmann und Sebald, ist gemeinsam, daß sie gegenüber der fernen Zeit, als im Zentrum des noch nicht vom Menschen gemachten positiven Rechts der Weltenrichter saß, für den Recht und Gerechtigkeit eins waren, vielleicht keinen Nachteil, sicher aber auch keinen Vorteil der Gegenwart erkennen wollen. Was Kafka im einzelnen gedacht hat, ist unklar, er verbirgt sich hinter der Intensität seiner Sprache. Gegenüber seinen Gestalten hat er keinen Vorsprung, auch er vermochte es nicht, Gesetz und Schloß zu betreten, auch ihm mußte dunkel bleiben, ob die Majestät oder, wie erkennbar im Brüsseler Justizpalast oder auch in Onettis Werft, das Nichts darin haust. Luhmann hat sich immer wieder gern über die Jahrhunderte hinweg mit seinem Namensvetter Niklas Cusanus unterhalten, der ihm bereits zugearbeitet und den Weltenrichter in eine derart entfernte Position gebracht hatte, daß ihm niemand mehr zu nahe treten konnte. Die Theorie umspielt diese Position, nimmt sie aber nicht als Gegenstand. Sebald läßt die Heiligen noch zur Hälfte auffahren, und dann bleiben sie stecken: in solcher Zahl hingen die weißverhüllten Stengel unter dem Bibliotheksplafond, daß sie eine Art Papierwolke bildeten, in der Mrs. Ashbury, wenn sie auf der Bibliotheksstaffelei stehend, mit dem Aufhängen und Abnehmen der raschelnden Samenbehälter beschäftigt war, wie eine in den Himmel auffahrende Heilige zur Hälfte verschwand (RS 247 ff). Die obere Hälfte ist nicht einsehbar, von dort gibt es nichts zu erzählen, es sei denn, daß dort die seltsamen Wasserwege des Jägers Gracchus verlaufen. Ich bin immer auf der großen Treppe die hinaufführt, berichtet Gracchus. Auf dieser unendlich weiten Freitreppe treibe ich mich immer herum, bald oben bald unten, bald rechts bald links, immer in Bewegung. Nehme ich aber den größten Aufschwung und leuchtet mir schon oben das Tor, erwache ich auf meinem alten in irgendeinem irdischen Gewässer öde steckenden Kahn. - Vor dem letzten Tor des höchsten Gesetzes, dels Tribunals Suprems, wird auch der mystische Wanderer Gracchus zurückgestoßen in seinen schweren alten Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen. Der Jäger Gracchus, dem die Tauben vorausfliegen wie dem Major Wyndham Le Strange.

Mit der Jurisprudenz im engeren Sinne, mit dem Studium ihrer Verfahren und Abläufe, hat sich naturgemäß dauerhaft nur Luhmann beschäftigt.

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