Per la bella giardiniera,
Margherita nell'alba
Gebirgslandschaft und Ruderalflächen
Wollte man Thomas Medicus vertrauen, so wären Ruderalflächen die einzige Landschaftsform, die Sebald kennt - eine verengte Sichtweise nicht nur, sondern eine Sichtweise fernab von der Wahrheit. Als Beleg reicht der Hinweis auf die wahrhaft grandiose Schilderung der Alpen- und Voralpenlandschaft auf der Fahrt im Bus von Innsbruck nach Oberjoch und der anschließenden Fußwanderung von Oberjoch nach Wertach auf dem Weg, der inzwischen Sebaldweg heißt (SG 187 ff). Grandioser Hochwald und öde Ruderalflächen stehen nicht nach einem Prinzip des mal so mal so einfach nur nebeneinander, das wird sofort deutlich, wenn man dem Dichter nur zuhört, wie er etwa von den Gärten erzählt. Er selbst vermag es am besten, die Dinge zurechtzurücken.
Gartenarbeit
Gärten brauchen für ihre Entstehung und ihren Bestand einen Gärtner. Bei Sebald tritt weniger die Gartenarbeit zum Zweck des Broterwerbs denn Gartenarbeit als Lebensnotwendigkeit hervor.
Die von der gewohnheitsmäßigen Schreib- und Gartenarbeit nun nicht mehr ausgefüllten Tage wurden mir ungemein lang, und ich wußte tatsächlich nicht mehr, wohin mich wenden (SG 39). Selysses, der sebaldnahe Wanderer, immer anwesend, aber kaum vorhanden, erläutert an der eigenen Person die angesprochene Trias von Schreiben, labiler, angegriffener Psyche und Gärtnerei nicht weiter. Weiter entfaltet wird sie an Austerlitz und Bereyter, beide verletzt an der Seele, Schreibende und, bei näherem Hinsehen, auch Gärtner: Die Ärztin riet mir eine leichte körperliche Beschäftigung zu suchen, etwa in einem Gartenbaubetrieb, und also bin ich, während der nächsten zwei Jahre jeden Morgen früh hinausgefahren nach Romford an meinen neuen Arbeitsplatz, eine von der Kommune unterhaltene Ziergärtnerei, in welcher neben den gelernten Gärtnern auch eine gewisse Anzahl behinderter oder der seelischen Beruhigung bedürftiger Gehilfen tätig war. Ich wüßte nicht zu sagen, weshalb ich dort draußen in Romford im Verlauf der Monate einigermaßen genesen bin, ob es die von ihrem Seelenleiden gezeichneten, teils aber auch frohsinnigen Leute waren, in deren Gesellschaft ich mich befand, das ständig gleiche feuchtwarme Klima in den Treibhäusern, der sanfte, die gesamte Atmosphäre erfüllende Moosbodengeruch, die Gradlinigkeit der dem Auge sich darbietenden Muster oder das Stetige der Arbeit selber, das vorsichtige Pikieren und Umtopfen der Setzlinge, das Ausbringen der größer gewordenen Pflanzen, die Versorgung der Frühbeete und das Gießen mit der feinen Rosette, das mir von allen Geschäften das liebste gewesen ist (AUS 334f).
Dem Zusammenbruch, der unmittelbar zur Einlieferung in das St. Clement’s Spital und zur anschließenden Rehabilitation in Romford führte, war bereits zuvor, sozusagen einleitend, ein Schreib- und Sprachzusammenbruch vorausgegangen: Die unendlichen Möglichkeiten der Sprache, der ich mich früher doch getrost überlassen konnte, schrumpften zu einem Sammelsurium der abgeschmacktesten Phrasen zusammen. Keine Wendung im Satz, die sich nicht als eine jämmerliche Krücke erwies, kein Wort, das nicht ausgehöhlt klang und verlogen (AUS 181). Das Motiv, Schreiben führe an den Rand des Wahnsinns, taucht in verschiedener Form an verschiedenen Stellen im Werk Sebalds auf. Das Zusammensein mit Menschen, die endgültig über diesen Rand gefallen sind, übt, ähnlich der Vegetationswelt, eine eigenartige Beruhigung aus auf den „Geistesmenschen“, der für Sebalds Werk nicht weniger bestimmend ist als für dasjenige Bernhards. Auch Selysses findet diese Art der Beruhigung auf einem gemeinsamen Ausflug mit dem geisteskranken Dichter Ernst Herbeck, der optisch dargestellt ist durch eine Photographie, die nicht ihn, sondern Robert Walser in seiner schon überschatteten Phase zeigt (SG 40).
Paul Bereyter verbrachte viel Zeit mit der Gartenarbeit, die er liebte wie vielleicht nichts sonst. Er hatte sich des ziemlich vernachlässigten Gartens angenommen, und tatsächlich war ihm ein wahrhaft einmaliges Verwandlungswerk gelungen. Die jungen Bäume, die Blumen, die Blatt- und Kletterpflanzen, die schattigen Efeubeete, die Rhododendren, die Rosensträucher, die Stauden und Boschen – es war alles am Wachsen, und nirgends gab es eine kahle Stelle mehr. Jeden Nachmittag, wenn das Wetter es zuließ, ist Paul im Garten beschäftigt gewesen, und zwischenhinein ist er lang einfach irgendwo gesessen und hat in das um ihn herum sich vermehrende Grün hineingeschaut (AW 85). Die wohltätige Tageswirkung des Gartens hat er dann aber in den Nächten mit Schreiben konterkariert: Während der Nacht freilich habe Paul sich nicht an die ärztlichen Maßregeln und Vorschriften gehalten, sondern es habe immer bei ihm bis in die frühen Stunden die Lampe gebrannt. Er habe gelesen und gelesen – Altenberg, Trakl, Wittgenstein, Friedell, Hasenclever, Toller, Tucholsky, Klaus Mann, Ossietzky, Benjamin, Koestler und Zweig, in erster Linie also Schriftsteller, die sich das Leben genommen hatten oder nahe daran waren, es zu tun. Seine Exzerpthefte geben einen Begriff davon, wie ungeheuer ihn insbesondre das Leben dieser Autoren interessiert hat. Hunderte von Seiten hat er exzerpiert (AW 85f). – Auch der gleichsam in ein Paradies verwandelte Garten, in dem nirgends es eine kahle Stelle mehr gab, geschweige denn eine Ruderalfläche, kann die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies nicht rückgängig machen, die Nacht siegt, Paul Bereyter läßt sich von einem Zug überrollen.
Austerlitz und Bereyter suchen in der Gartenarbeit Heilung in ihrer Not. Der auferstandene Heiland, dessen Leidensweg im Garten Gethsemane begonnen hatte zeigt sich in der christlichen Bildvorstellung, nachdem er Not und Tod überwunden hatte, als Gärtner, vor ihm kniend Maria Magdalena. Auch Mesdames de Verneuil und Landau, die Gefährtinnen Austerlitz’ und Bereyters, knien in gewisser Weise vor ihren vergeblich das Heil suchenden Schützlingen.
Paradiese
Bei der Beobachtung der Gartenarbeiter sind die Gärten selbst bislang kaum in den Blick geraten. Gartendarstellungen finden sich bei Sebald in nicht geringer Zahl.
In Verona ging ich sogleich, einer alten Gewohnheit gemäß, in den Giardino Giusti. Dort bin ich, während der frühen Nachmittagsstunden, auf einer steinernen Bank unter einer Zeder gelegen. Ich hörte die Luft aus- und einstreichen durch das Astwerk und das feine Geräusch, das der Gärtner machte beim Rechen der Kieswege zwischen den niedrigen Buchsbaumhecken, deren sanfter Geruch selbst jetzt noch im Herbst die Luft erfüllte. Lang war mir nicht mehr so wohl gewesen. Dennoch erhob ich mich schließlich. Beim Hinausgehen aus dem Garten beobachtete ich eine Zeitlang ein weißes türkisches Taubenpaar, das mehrmals hintereinander mit einigen wenigen klatschenden Flügelschlägen steil über die Wipfel sich erhob, eine kleine Ewigkeit stillstand in der blauen Himmelshöhe und dann, vornüberkippend mit einem kaum aus der Kehle dringenden gurgelnden Laut, herabsegelte, ohne sich selbst zu rühren um die schönen Zypressen herum, von denen die eine oder andere vielleicht an die zweihundert Jahre schon gestanden hatte an ihrem Platz. Ihr immerwährendes Grün – es erinnerte mich an die Eiben in den Kirchhöfen der englischen Grafschaft, in der ich wohne. Langsamer noch als die Zypressen wachsen die Eiben. Auf einen Zoll Eibenholz kommen nicht selten über hundert Jahresringe, und es soll Bäume geben, die gut ein Millennium überdauert und anscheinend ganz an das Sterben vergessen haben. Ich trat in den Vorhof hinaus, wusch mir an dem in die efeuüberwachsene Gartenmauer eingelassenen Brunnen, wie ich es beim Hineingehen schon getan hatte, das Gesicht und die Hände, warf einen letzten Blick zurück auf den Garten und erwiderte, indem ich mich dem Ausgang zuwandte, den Gruß der Pförtnerin, die mir aus ihrem dunklen Gehäuse heraus zunickte (RS 80ff).
Sofern der Giardino Giusti eine Annäherung an das Paradies ist, sein Abglanz, und wie sollte man die Stelle anders lesen, so sind zugleich einige unverzichtbare paradiesische Merkmale verdeutlicht. Das Paradies ist weitgehend menschenleer, es fehlt jeder Hinweis darauf, daß sich neben Selysses ein weiterer Besucher im Garten aufhalten würde. Eva sitzt als Empfangsdame im Pförtnerhäuschen. Der Paradiesgarten ist auf Erhalt durch den Menschen angewiesen, das Rechengeräusch des Gärtners ist aber so dezent, als fege nur ein Mönch das Getier beiseite, um es vor den Tritten seiner Füße zu bewahren. Stille ist ein unverzichtbares Merkmal, Stille und zeitliche Begrenzung und Wiederholung ebenso wie Ewigkeit. Selysses sucht den Giardino Giusti gewohnheitsmäßig auf, wenn er sich in Verona aufhält, naturgemäß aber immer nur für eine begrenzte Zeit. Tauben steigen auf, fraglos ein Residuum der christlichen Himmelsorientierung, und halten eine kleine Ewigkeit still im Flug. Die große Hintergrundewigkeit wird gewonnen, indem Selysses sich von den italienischen Zypressen zu den englischen Eiben tragen läßt, deren Lebensspanne jeden menschlichen Maßstab bei weitem übersteigt.
Das zentrale Paradies in Sebalds Werk, Andromeda Lodge, ist in dem Reichtum seiner Gestaltung unmittelbar nur am Rande vom Gartenmotiv geprägt, hinterläßt aber gleichwohl übergreifend den Eindruck eines Geschehens in einem großen, Pflanzen, Tiere und Menschen, land und Wasser umfassenden Weltgarten. In dem vollkommen verwilderten Garten, der rückwärts des Hauses den Hang hinaufging, wuchsen Pflanzen und Stauden, die ich nirgends in Wales gesehen hatte zuvor, Riesenrhabarber und mehr als mannshohe neuseeländische Farne, Wasserkohl und Kamelien, Bambusdickicht und Palmen, und über eine Felswand stürzte ein Bach zu Tal, dessen weißer Staub immer das gefleckte Dämmer unter dem Blätterdach der hohen Bäume durchwehte (AUS 122). Die schönsten Farben seien dort noch zu finden, wo sie keiner sehe, in den submarinen Gärten klaftertief unter der Oberfläche des Meeres. Drunten an den Kreideklippen, wo aus dem Stein durch die Brandung Höhlungen und Becken gebrochen und geschliffen werden seit Jahrmillionen, sei die unendliche Vielzahl des zwischen dem Pflanzlichen, Tierischen und Mineralischen oszillierenden Wachstums zu bewundern, die Zooiden und Korralinen, Seeanemonen, Seefächer und Seefedern, die Blumentierchen und Krustazeen, die in dem zweimal an jedem Tag von der Flut überspülten, von langen Tangwedeln umströmten und dann, beim Absinken des Wassers, wieder ganz dem Licht und der Luft preisgegebenen Felsenkelchen in sämtliche Farben des Spektrums – spangrün, scharlach und rauschrot, schwefliggelb und samtschwarz – ihr wunderbar schillerndes Leben entfaltet hatten (AUS 134). Es gebe keinen Grund, den geringeren Kreaturen ein Seelenleben abzusprechen. Nicht nur wir und die mit unseren Gefühlsregungen seit vielen Jahrtausenden verbundenen Hunde und anderen Haustiere träumten in der Nacht, sondern auch die kleineren Säugetiere, die Mäuse und Maulwürfe, halten sich schlafend, wie man an ihren Augenbewegungen erkennen kann, in einer einzig in ihrem Inneren existierenden Welt auf, und wer weiß, vielleicht träumen auch die Motten oder der Kopfsalat im Garten, wenn er zum Mond heraufblickt in der Nacht (AUS 142). Die menschliche Population im Garten ist beschränkt und schrumpft ideell wieder auf das biblische Paar, in diesem Fall Austerlitz und Adela, und wie damals ist ihr Aufenthalt im Garten wieder nur kurz und überaus flüchtig.
Überforderung und Rückeroberung
Der Giardino Giusti ist vielleicht der einzige Sebaldgarten im paradiesischen Lot, bereits Andromeda Logde ist angekränkelt, die Pracht der Unterwassergärten eigentlich schon Vergangenheit. Typisch für das Werk sind die verwilderten, von der Natur mehr oder weniger zurückeroberten Gärten.
Ein moosiger Weg führte durch tiefe Schatten und schließlich wie auf eine Bühne hinaus auf eine große Terrasse mit steinerner Balustrade, unterhalb derer ein weiter quadratischer Gartenplatz lag, eingefaßt von Blumenbeeten, Buschwerk und Bäumen. Jenseits des Rasens, nach Westen, öffnete sich eine Landschaft, ein Park mit einzelnen stehenden Linden, Ulmen und immergrünen Eichen. Dahinter die sanften Wellen der Äcker und das weiße Wolkengebirge am Horizont. Sprachlos betrachteten wir lange diese in abfallenden und aufsteigenden den Blick in die Ferne ziehende Anlage und glaubten allein zu sein, bis wir in dem Halbschatten, der von einer hohen Zeder in der südwestlichen Ecke des Gartens auf den Rasen gebreitet wurde, eine regungslose Gestalt liegen sahen. Er erhob sich nicht ohne eine gewisse Verlegenheit, er sei nur ein Bewohner des Gartens, a kind of ornamental hermit. Nicht nur der Küchengarten sei nach Jahren der Vernachlässigung am Erliegen, auch die unbeaufsichtigte Natur, er spüre es mehr und mehr, stöhne und sinke in sich zusammen unter dem Gewicht dessen, was ihr aufgeladen werde von uns. Die Verwilderung des einstmals vorbildlichen Gartens habe übrigens den Vorteil, daß das, was wachse in ihm, oder was er hie und da, ohne größere Anstalten, angesät und angepflanzt habe, von einem, wie er meine, außergewöhnlich feinen Geschmack sei (AW 9 ff).
Wie im Giardino Giusti auch hier ein einzelner Mensch liegend in einer Gartenanlage, schlafend gar wie die Jünger in Gethsemane. Das Himmelfahrtsmotiv der Tauben, dem der Giardino Giusti womöglich sein paradiesisches Gleichgewicht verdankt, fehlt im Garten des Eremiten Selwyn. Auf schwere Störungen wird hingewiesen nicht nur des Gartens, der Mensch ist zuviel für die Natur insgesamt. Selwyn hat, indem er sich dem Garten ohne größere Anstalten, wie es heißt, einfügt, ein gewisses Gleichgewicht wieder hergestellt. Während sprachlich eher der Eindruck einer großzügigen und üppigen Wildheit des Gartens erzeugt wird, gehen die Photographien auf den Seiten 12 und 13 erheblich in Richtung Ruderalfläche.
In einem verwilderten Garten lebt naturgemäß auch Sebalds herausragender Eremit, sein seltsamster Heiliger, den die Vögel als heiligen Franz emporheben, wenn er es nicht vorzieht, als heiliger Hieronymus im Erdloch zu hausen: Le Strange hatte gegen Ende der fünfziger Jahre nach und nach seine Landarbeiter, Gärtner und Verwalter entlassen und lebte von da an in dem großen Steinhaus allein mit der Köchin, so daß infolgedessen das ganze Gut, die Gartenanlagen und der Park zusehends verwilderten und zerfielen und die brachliegenden Felder von ihren Rändern herzuwuchsen mit Strauchwerk und Gestrüpp (RS 80f).
Und eine ganze, vaterlose Eremitenfamilie: Jenseits des Blumengartens erstreckte sich bis an den Weltrand, wo die Minarette von Khoranan aufragten, ein gleichmäßig grüner und vollkommen leerer Park. Es war der Park eines am Fuße der Slieve Bloom Mountains in Irland gelegenen Landsitzes. Sehr weit in der Ferne konnte ich das dreistöckige, efeuüberwachsene Gebäude erkennen, in dem die Ashburys wahrscheinlich bis heute ihr abseitiges Leben führen. Von den hohen Fenstern sah man über die Dächer der Stallungen und Remisen und über den Küchengarten hinweg auf ein schönes, vom Winde durchwogtes Stück Weideland. Weiter in der Entfernung blinkte von einer Flusskrümmung her das seitwärts dem tiefen Ufer zuströmende Wasser. Dahinter, in mancherlei Grün, waren Bäume und darüber die schwache, gegen das gleichmäßige Himmelsblau kaum sich abhebende Linie der Berge. Mrs. Ashbury sammelte Blumensamen in Papiertüten, die ich sie in den verwilderten Beeten vorsichtig über die abgestorbenen Blütenköpfe stülpen und mit einem Faden zubinden sah. Dann schnitt sie die Stengel ab, brachte sie ins Haus und hängte sie an eine vielfach zusammengestückelte, kreuz und quer durch die Bibliothek gespannte Leine. In solcher Zahl hingen die weißverhüllten Stengel unter dem Bibliotheksplafond, daß sie eine Art Papierwolke bildeten, in der Mrs. Ashbury, wenn sie auf der Bibliotheksstaffelei stehend, mit dem Aufhängen und Abnehmen der raschelnden Samenbehälter beschäftigt war, wie eine in den Himmel auffahrende Heilige zur Hälfte verschwand (RS 247 ff). – Auf seine Art auch ein Paradies, ein welkes, verblühtes. Das ansonsten als christliche Untermalung des Vogelflugs nur latente Himmelfahrtsmotiv tritt offen zutage und erlaubt einen weiteren Blick auf Sebalds gekapptes Christentum. Die Heiligen sind noch da, fliegen zur Hälfte auf und bleiben stecken, man weiß nicht wohin sie fliegen wollen, nach allem, was man vermuten kann, nirgendhin.
Nach den Eremiten der auftrumpfende Prunk: Der besondere Ruhm von Somerleyton bestand anscheinend darin, daß sich die Übergänge zwischen Interieur und Außenwelt so gut wie unmerklich vollzogen. Salons wechselten ab mit Wintergärten, luftige Foyers mit Veranden. Es gab Korridore, die in einer Farngrotte mit immerzu plätschernden Brunnen zusammentrafen, überlaubte Gartengänge, die sich kreuzten unter der Kuppel einer phantastischen Moschee. Versenkbare Fenster öffneten den Raum nach draußen, während inwendig auf den Spiegelwänden die Landschaft erschien. Palmenhäuser und Orangerien, der einem grünsamten Tuch gleichende Rasen, die Bespannung der Billardtische, die Bouquets in den Morgen- und Ruhezimmern und in den Majolikavasen auf der Terrasse, die Paradiesvögel und Goldfasane auf den Seidentapeten, die Stieglitze in den Volieren und die Nachtigallen im Garten, die Teppicharabesken und die von Buchsbaumhecken eingefaßten Blumenparterres, alles das changierte in einer Weise, daß die Illusion einer vollkommenen Harmonie hervorgerufen wurde zwischen natürlichem Wachstum und Fabrikation (RS 46).
Sebald hat kein kleinliches Verhältnis zu Luxus und Reichtum, er ist auf der Höhe des Themas. In der Darstellung von Glanz und Morbidität, in der Faszination durch die Belle Epoque steht er Proust nicht nach. Das hindert nicht, daß wir es bei der Darstellung des Versuchs, die Welt als Garten zu einem Teil der menschlichen Behausung zu machen, mit einer Hybris zu tun haben, einem Gartenbau zu Babel. Der Umschwung, die Selbstbefreiung der kommt dann auch schon bald, nur wenige Seiten weiter: Im Gegensatz zu dem allmählich verdämmernden Haus waren die Anlagen, die es umgaben, jetzt, ein Jahrhundert nach der Glanzzeit von Somerleyton, auf dem Höhepunkt ihrer Evolution. Zwar mochten die Rabatten und Beete einst farbenprächtiger und besser gepflegt gewesen sein, aber dafür füllten die Bäume nun den Luftraum über dem Garten aus, und die von den damaligen Besuchern bereits bewunderten Zedern, von denen einige ihr Astwerk über nahezu einen Viertelmorgen ausbreiteten, waren inzwischen ganze Welten für sich Es gab Sequoien, die höher als sechzig Meter hinaufragten, und seltene Sykomoren, deren äußerste Zweige sich niedergesenkt hatten auf den Rasen und die dort, wo sie die Erde berührten, festgewachsen waren, um von neuem aufzustreben in einem vollkommenen Kreis. Man konnte sich leicht vorstellen, daß diese Platanenarten sich über das Land ausbreiteten wie konzentrische Kreise auf dem Wasser und daß sie, indem sie solchermaßen ihr Umfeld eroberten, nach und nach schwächer wurden, in sich selbst verwuchsen und von innen her abstarben. Manche der helleren Bäume schwebten wolkengleich über dem Park. Andere waren von einem tiefen, undurchdringlichen Grün. Terrassenförmig stiegen die Kronen über einander, und wenn man die Sehschärfe der Augen nur ein wenig verstellte, dann war es, als schaute man in ein von riesigen Wäldern überzogenes Gebirge hinein (RS 50 f). – Der frevelhafte menschliche Übermut ist von der Natur mit großartigem Gestus zurückgewiesen und umgedreht, das Haus, das sich Garten und Natur zueigen machen wollte, ist nurmehr noch ein Fragment der Natur, die Bäume haben das metaphysische Moment des Auffliegens an sich genommen und uns als Strafe für unsere Arroganz den Himmel genommen. Offenbar war das ihre vordringliche Aufgabe, nach deren Erledigung sie im wiedergewonnenen Frieden von innen her absterben können.
Delirien der Macht und Gewalt
Die Truppen der Alliierten stießen zu Anfang des Monats Oktober anscheinend zufällig auf den nahe bei Peking gelegenen, mit einer Unzahl von Palästen, Pavillons, Lauben, Tempeln und Turmbauten bestückten Zaubergarten Yuan Ming Yuan, wo an den Abhängen künstlicher Berge zwischen Böschungen und lichten Gehölzen Hirsche mit fabelhaften Geweihen weideten und die ganze unbegreifliche Pracht der Natur und der von Menschenhand in sie eingebetteten Wunder sich spiegelten in den dunklen, von keinem Lufthauch bewegten Gewässern. Das der militärischen Disziplin und überhaupt jeder Vernunft spottende furchtbare Zerstörungswerk, das im Verlauf der folgenden Tage in der legendären Gartenlandschaft vollbracht wurde, ist nur teilweise begreifbar als eine Folge der Wut über die immer weiter sich verschleppende Entscheidung. Mit unglaublicher Geschwindigkeit gingen die zumeist aus Zedernholz gebauten Tempel, Solitüden und Eremitagen nacheinander in Flammen auf und verbreitete sich krachend und springend das Feuer durch das grüne Gebüsch und die Wälder. Bis auf ein paar steinerne Brücken und Marmorpagoden war bald alles zerstört. Lange noch hingen Rauchfahnen über die ganze Umgebung und eine große Aschenwolke, die die Sonne verdeckte, wurde vom Westwind nach Peking getragen, wo sie nach einiger Zeit sich niedersenkte auf die Häupter und Behausungen der, wie sie wähnten, von einer Strafe des Himmels heimgesuchten Bewohnern (RS 173 ff).
Schon Kafka hatte sich auf der Suche nach dem, was er sagen mußte, auch wenn es nicht zu sagen ist, nach China tragen lassen. Eins ist sicher die Faszination der Verbindung von absoluter Macht und absoluter Machtlosigkeit, Der Bote rennt los wie besessen, um dir, dem treuen Untertanen am Rande des Reiches die Botschaft des Kaisers zu überbringen, und er wird bei all seinem Eifer nicht einmal den äußeren Rand des Palastes erreichen. Auch bei Sebald ist es die in Todesstarre und völlige Wehrlosigkeit übergegangene äußerste Macht. Ihr heller Abglanz, der Garten, der in seiner Pracht und seinem Raffinement alles in Europa Denkbare bei weitem übersteigt wird Opfer einer barbarischen Tat und einer der weltvernichtenden Feuersbrünste, wie sie in Sebalds Werk die Menschheit nicht selten heimsuchen: Je ostentativer aber die Mittel wurden zur Demonstration ihrer Autorität, desto mehr wucherte in ihr die Angst vor dem Verlust der Allgewalt, die sie mit so viel Umsicht an sich gebracht hatte. Schlaflos wanderte sie in der Nacht in der bizarren Schattenlandschaft des Palastgartens herum zwischen künstlichen Felsengebirgen, Farngründen und dunklen Thujen und Zypressen. Die winzigen Figuren der Gärtner in den Lilienfeldern dienten ihr nicht zur Erinnerung an die Naturbewegtheit des Menschen, sondern waren vielmehr, wie Fliegen in einem Glas überwältigt von der Willkür des Todes RS 180 f).
Bereits die Betrachtung nur einiger weniger Gartenansichten und noch nicht einmal der zahlreichen Landschaftsdarstellungen, der Wälder und Felder, zeigt, daß Ruderalflächen in Sebalds Texten keineswegs dominant sind, dominant ist vielmehr die unbegreifliche Pracht der Natur, die ihrerseits von der Üppigkeit der Prosa rückverstärkt wird. Die Prosa stößt auf die Gegenmelodie der zweiten Erzählschicht in den Bildern, die die Präsenz von Ödnis und Leere betont. Selwyns Garten wirkt abgelichtet grauer, als wie wir ihn uns vorgestellt hatten. Keine Bilder gibt es von den brandroten Lärchenständen, die an den Seiten der Berge leuchteten (SG 192) und natürlich auch nicht von den Unterwassergärten bei Andromeda Lodge, die der Text in einen wahren Farbtaumel taucht. Gäbe es ein Photo, so wäre es grau und überflüssig, einen mit farbigen Hochglanzbildern bestückten Austerlitz kann man sich bis auf weiteres nicht gut vorstellen.
Das alles ist kein Versuch, den Stellenwert der Ruderalflächen zu leugnen oder herabzuspielen. Ruderalflächen sind vielfach präsent und haben eine hohe Bedeutung, die des Ausgangs und des Endes unseres zeitlichen Lebensraums. Sebalds Prosa steht unter der Prämisse einer Welt, die ohne Menschen ausgekommen ist und auch wieder ohne den Menschen auskommen wird. Das wird deutlich bereits im Prosagedicht Nach der Natur und dann immer wieder in den zahlreichen Vernichtungsvisionen, die das Werk durchziehen. Die Ödflächen sind ein Vorgriff auf den erwarteten Zustand. Das Motiv einer menschenleeren Welt ist nichts besonderes, Blumenberg etwa leitet eines seiner großen Bücher mit einem knappen Hinweis auf die triviale Einsicht der zeitlichen Begrenztheit der Gattungsexistenz ein. Trivial heißt aber wiederum nicht, man könne die Einsicht aus dem Gedächtnis streichen. Die exponierte Stellung, die Blumenberg ihr verleiht, ist vielmehr eine Aufforderung, sie wie den Gedanken an den eigenen Tod ständig bei allem Denken mit sich zu tragen. Bei Sebald scheint zusätzlich das Motiv der möglichen Selbstbeteiligung am Untergang durch, auch das nichts besonderes. Luhmann, dem jede Form von Alarmismus fremd war, hielt gleichwohl die selbsterzeugten Gefährdungspotentiale für so vielfältig, daß es lohne über die wahrscheinlichste konkrete der Auslöschung nachzudenken. Als seinen Favoriten nennt er eine Viruspandemie. John Postgate geht noch einen Schritt weiter, in seinem Buch The Outer Reaches of Life freut er sich erkennbar schon auf den Tag, an dem die Mikroben wieder das alleinige Sagen haben.
Das sind einzelne Stimmen, insgesamt ist der Gedanke an das große Ende eher unbeliebt und gilt wohl auch als undemokratisch, denn in der Tat wird es bei der Auslöschung oder dem Vergehen der Gattung nicht ohne Einschränkungen der Würde auch des Einzelnen und damit des gleichsam sakralen Kerns unserer Lebensweise abgehen. Seitdem das Jüngste Gericht abgeschafft und durch ein pausenloses und allgegenwärtiges Rechten ersetzt wurde, kann die Gemeinschaft auch mit dem leeren Jüngsten Tag nichts mehr anfangen. Er wird gleichwohl kommen. Sebald ist wie Kafka oder Bernhard kein Dichter des Zeitgeschehens oder gar der Alltagssorgen. Diese Einsicht, der man sich bei Kafka nicht entziehen kann und bei Bernhard nur schwer, läßt sich bei Sebald vermeiden, wenn man sich an Themen wie Holocaust, Luftkrieg und andere dieser Art klammert, an denen es nicht fehlt. So mächtig diese Themen sind, es sind nicht die letzten Themen des Dichters.
Czesław Miłosz hat im hohen Alter, nicht lange vor seinem Tod geäußert: Es ist sehr schwierig, die Antwort Gottes auf Hiob zu begreifen. Die Antwort ist die von Gott geschaffene Herrlichkeit. Er zählt die Tiere und Geschöpfe auf, und vielleicht ist das wirklich eine annehmbare, gültige Antwort. Kehrt man die Frage um: Wie kann man die Schönheit der Welt, die ganze unbegreifliche Pracht der Natur und der von Menschenhand in sie eingebetteten Wunder, akzeptieren angesichts von Elend und Tod, so hat man vielleicht die eigentliche melancholische Frage gestellt, auf die die Antwort nicht weniger schwierig ist als die Antwort Gottes an Hiob, eine Antwort, die der Mensch allenfalls im Wege der Kunst geben kann und die nie endgültig zu verstehen ist. Eher ist es eine derart intensive Form der Fragestellung, daß das Bedürfnis nach Antwort für eine kleine Ewigkeit zur Ruhe kommt. Sebalds Werk zählt zu den gelungensten Versuchen bislang.
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